XIV – Stationen 2001-2006

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII, Teil VIII, Teil IX, Nachtrag zu IX, Teil X, Teil XI, Teil XII, Teil XIII

Natürlich habe ich mich total auf das Hauptstudium gefreut. Doch zunächst fühlte ich mich im Gegensatz zu der Eingebundenheit in den ersten vier Semestern richtig verloren. Meine dreiköpfige Kern-Lerngruppe hatte sich durch Auswanderung und unüberwindbare Prüfungsangst* mit anschließendem Abbruch des Studiums in Luft aufgelöst. Das zum einen; zum anderen unterscheiden sich die Wege der Studierenden im Hauptstudium ohnehin zum Teil ganz erheblich voneinander. Man entscheidet sich nämlich bei den drei Anwendungsfächern (klinische, pädagogische, Arbeits-, Betriebs- u. Organisationspsychologie – kurz ABO) für zwei Schwerpunkte, sucht sich ein Wahlfach in einem anderen Studiengang und ein Fach, welches man vertieft studieren will. Dadurch verliert man so einige Kommilitonen aus den Augen.

Ich habe beispielsweise ABO nur basal studiert und mich für klinische und pädagogische Psychologie im Schwerpunkt entschieden. Als Wahlfach habe ich Sexualwissenschaften ausgesucht, und vertieft habe ich Psychophysiologie und Neuropsychologie studiert. Daneben studiert man noch Diagnostik + Evaluation, Interventions- und Forschungsmethoden. Bei Letzterem handelte es sich um Statistik, was man glücklicherweise nach Erreichen eines Scheins (‚Multivariate Gruppierungsverfahren der Psychologie‘ – bäh…) zugunsten der anderen Methodenfächer wieder abwählen konnte, wenn man wollte. Ich wollte. Im Grundstudium mochte ich Statistik zwar ganz gern, doch auf Matrizenrechnungen und Clusteranalysen etc. konnte ich auch gut verzichten. Außerdem war mir da schon klar, dass ich unabhängig vom Thema eine qualitative und keine quantitative Forschungsarbeit abliefern will, obwohl ich das Arbeiten mit SPSS (Statistikprogramm) als sehr befriedigend erlebte.

Am intensivsten habe ich mich in meinem Wahlfach engagiert. Da habe ich allein sechs Scheine erworben, obwohl drei ausgereicht hätten und ich Referatehalten eigentlich gehasst habe wie die Pest. Im Rückblick war für mich bis zum Diplom das freie Reden vor einer Gruppe unverändert das Allerschlimmste, obwohl ich mich dieser Herausforderung ganz bewusst gestellt und keine einzige Hausarbeit angefertigt habe.

Das Projekt, das in der Regel in der zweiten Hälfte des Hauptstudiums sehr großen Raum einnimmt, ist natürlich die Diplomarbeit. Bevor ich euch hier noch einmal mit der Findung meines Themas langweile, verweise ich auf diesen Beitrag. Darin habe ich allerdings unterschlagen, dass ich bereits im Grundstudium an einem ganz interessanten Thema dran war.

Damals machte ich auf einer Reise die Bekanntschaft einer MS-kranken Rollstuhlfahrerin, die kurz zuvor einen Profisportler geheiratet hatte. Leider war unsere gemeinsame Reisezeit begrenzt, aber ich kam infolge dieser Begegnung auf eine Idee. Ich könnte doch versuchen, der Frage auf den Grund zu gehen, ob und wie eine Partnerschaft zwischen Menschen mit und ohne Handikap ausbalanciert ist. Zu diesem sicherlich spannenden Thema, hat mir mein damaliger Lieblinsprofessor (Attraktivitätsforschung) bei einem unserer Fahrstuhltalks spontan zugesagt, würde er sehr gerne mit mir zusammenarbeiten. Leider hat die von mir favorisierte Erstbetreuerin (Sozialpsychologie – Forschungen zu Paarbeziehungen) nach meinem Vordiplom die Uni gewechselt, und dann war mir das Thema – der A. und ich waren gerade frisch verliebt – zu heikel, weil viel zu dicht an mir dran. Ich wollte in dieser Phase möglichst nichts entzaubern.

Einen Professor als Gutachter für mein doch recht exotisches Thema zu finden war eine ziemlich heikle und langwierige Angelegenheit. Meine erste Wahl fiel auf den von mir geradezu verehrten Gunter Schmidt, der neben Volkmar Sigusch einer der renommiertesten Sexualwissenschaftler Deutschlands ist. Leider war er frisch emeritiert. Wenigstens hat er mir noch die mündliche Wahlfachprüfung abgenommen. Er verwies mich an seine Kollegin, welche aber, wie sich herausstellte, keine qualitativen Arbeiten mehr betreute, da durch den erheblichen Arbeitsaufwand erfahrungsgemäß nicht wenigen Diplomanden die Puste ausgeht. Sie bestand selbst bei sehr wenigen Probanden (n<8) auf eine statistische Bearbeitung, was ich völlig abwegig fand. Zudem war sie mir nicht gerade sympathisch.

Also sah ich mich wieder an meinem eigenen Fachbereich um. Ich mache es kurz. Zwei (männliche) Professoren, die zwar qualitative Arbeiten betreuten, versuchten, mich dem jeweils anderen zuzuschieben, um dann festzustellen, dass das wohl eher ein Frauenthema und folglich besser bei der Kollegin W. aufgehoben sei. W., muss man vielleicht wissen, ist eine Esoterikerin, die man am Fachbereich nicht so richtig ernst nimmt. Sie war aber meine gefühlt letzte Chance, bevor ich mein Thema endgültig begraben müsste.

Es gab dabei zwei Herausforderungen. Ich wollte ihr nicht das Gefühl vermitteln, dass sie meine letzte Wahl ist, und zweitens wollte ich mich vor eher spirituellen und vielleicht weichgespülten Interessen schützen. Denn eigentlich wollte sie nur noch Themen betreuen, die zu ihrem Forschungsgebiet (Psychotherapie, Spiritualität, Religiosität usw.) passten. Aber sie betreut eben auch qualitative Arbeiten und am Rande eben auch Frauenthemen. Weiß der Himmel weshalb, sie mochte mich schon in ihren Gesprächstherapieseminaren sehr gerne und sah in mir irgendwie einen spirituellen Menschen, dabei kannte ich, glaube ich, nur ein paar Leute aus der Psycho-Eso-Szene, die sie auch kannte. Das hat ihr vielleicht gefallen. (außerdem hat sie wie ich am 6. Dezember Geburtstag.)

Wenn man einmal den Erstgutachter hat, ist es meistens kein Problem, einen zweiten zu bekommen. Dafür habe ich erneut meinen Lieblinsprof aus dem Grundstudium gefragt.

Für die Diplomarbeit nahm ich mir richtig Zeit. Sie entstand über insgesamt vier Semester – davon zwei Urlaubssemester – mit begleitendem Forschungsseminar.

(Wer sich von meinem 295 Seiten umfassenden „Werk“ einen ganz kleinen Eindruck verschaffen will, liest als atmosphärischen Einstieg am besten den Prolog und dann vielleicht die kurze Zusammenfassung der Ergebnisse.)


Eugenie beim Lernen

Anschließend habe ich mich auf vier mündliche Diplomprüfungen vorbereitet und sehr gut bestanden. Die ausstehenden drei Prüfungsfächer nahm ich erst wieder nach einem Krankheitssemester in Angriff. Die Einsen in Folge haben bei mir einen dermaßen großen Ehrgeiz ausgelöst, dass ich auch die restlichen Prüfungen unbedingt mit 1,0 bestehen wollte. Ganz besonders stolz bin ich auf die Eins in meinem Vertiefungsfach (Psychophysiologie und Neuropsychologie). Am ganzen Fachbereich war das nämlich der Angstprüfer schlechthin! Ich wusste aber einfach, dass ich in diesem naturwissenschaftlichen Fach richtig gut bin und war vor dieser Prüfung ausnahmsweise mal die Ruhe in Person. Hilfreich war möglicherweise auch, dass ich gerade vor diesem Professor keinen allzu großen Respekt hatte. Es war also eher eine sportliche Angelegenheit.

Einschub:
Natürlich habe ich mich in den letzten Wochen immer wieder gefragt, weshalb dieses letzte Kapitel unabhängig von meiner derzeitigen körperlichen Verfassung ein so schwerer Angang war. Ich glaube, es lag mit daran, dass ich bisher auch das eine oder andere Private einfließen ließ, allein schon damit das Ganze etwas lebendiger wird.

Eine Sache, die mich während des Hauptstudiums sehr mitgenommen hat, habe ich glaube ich bis heute noch nicht richtig verarbeitet – den Tod meiner Freundin. Sie war auch meine Hausärztin und hat mich immer für meinen Umgang mit der MS bewundert. Anfang 50, also recht spät, wurde diese Krankheit auch bei ihr diagnostiziert. Jetzt war ich zunehmend ihr leuchtendes Vorbild. Leider hat sie mich mit ihren Beschwerden in einem furchteinflößenden Tempo überholt und ich kam mit dem Ermutigen langsam an meine Grenzen. Sie war mit Leib und Seele Ärztin und hat schweren Herzens wenigstens ihre Arbeitszeiten reduziert – eigentlich ging es schon gar nicht mehr. Ihre Arzthelferinnen mussten ihr immer mühsam die Altbau-Treppen hinauf helfen. Die paar Schritte in ihrem winzigen Behandlungszimmer balancierte sie ohne ihren Rollator unsicher an der Wand entlang. Aber in der Gemeinschaftspraxis wussten alle, dass sie ihr das nicht auch noch nehmen durften.

Als dann aber wirklich gar nichts mehr ging, brach für sie eine Welt zusammen. Prompt meldete sich ein viele Jahre unauffälliger Knoten in der Brust, und dann ging es innerhalb von nur wenigen Wochen rasant bergab: Krankenhaus – Hospiz – Tod. Dabei dachten wir beide immer, dass uns ein Krebsleiden sicherlich erspart bliebe, da unserer Ansicht nach der Krankheitsprozess ein völlig anderer sei und wohl kaum parallel zu einer MS in ein und demselben Körper wüten könnte. Dachten wir.

Ganz besonders schlimm für mich waren die Begleitumstände. Schon nach wenigen Tagen im Krankenhaus erkannte ich sie kaum wieder. Sie war so schwach und hinfällig. Weil es ihr so schlecht ging, verhängte ihr Lebensgefährte bald Besuchsverbot. Er wollte den Freundeskreis aber über E-Mail auf dem Laufenden halten, was anfangs auch geschah. Als ich dann nach einer gefühlt zu langen Funkstille mal telefonisch nachfragte, ob denn irgendwann wieder mit einer Lockerung der Besuchssperre zu rechnen sei, bekam ich als Antwort die vorwurfsvoll-fast aggressive Frage, ob ich denn nicht wüsste, dass V. bereits seit letzter Woche unter der Erde liege. Ohne meine Reaktion abzuwarten, schimpfte er, dass ich mich ja wohl nicht gerade als gute Freundin erwiesen hätte, indem ich der Beerdigung ferngeblieben sei.

Ich war völlig fassungslos und kann auch heute kaum den Gefühlscocktail beschreiben, der da augenblicklich in mir tobte. Nach diesem unsäglichen Telefonat in dieser schrecklichen Situation, habe ich nie wieder ein Wort mit ihm gewechselt. Und so kommt es, dass ich über die letzten Wochen im Leben meiner Freundin bis heute nicht das Geringste weiß. Aber auch ohne dieses Wissen bin ich mir ziemlich sicher, dass es psychogenes Sterben gibt. Ich gebe zu, dass ich dieses mich quälende Ende meiner Freundin nach Kräften verdrängt habe. Erst dieses Jahr wollte ich ihr Grab auf dem jüdischen Friedhof suchen. Auf dem Weg dorthin ging es mir aber plötzlich so extrem schlecht, dass ich wieder unvollendeter Dinge umkehren musste.

Es gibt aber auch sehr positiv bewertete Ereignisse im Leben eines Menschen, die ganz schön Stress auslösen können. Und dazu gehört Heiraten. Und um diesen Stress auf ein Minimum zu reduzieren, haben wir erst gar niemandem Bescheid gesagt und das Highlight zu zweit allein ohne Namensänderung durchgezogen. (Nach meiner Scheidung hatte ich 2003 nämlich wieder meinen Mädchennamen angenommen.)


Schnappschuss vom Standesbeamten

Vor diesem Hintergrund ist es jetzt vielleicht nachvollziehbarer, dass auch bei mir drastischere Verschlechterungen zu verzeichnen waren. Es gab einiges, was ich in den letzten Semestern zum letzten Mal tat: beispielsweise selbstständig das Haus verlassen, Treppen gehen, Autofahren, um nur einiges zu nennen. Nur letzteres erlebte ich ziemlich bewusst, denn mir wurde während der abenteuerlichen Fahrt klar, dass ich nur mit Glück heil ankommen werde. Ach ja, in dem Callcenter musste ich natürlich notgedrungen auch kündigen, wobei mir dieser Abschied nicht schwer fiel..

So kam es, dass ich mein Studium nur mit Hilfe des A. bis zum Ende durchziehen konnte. Und netterweise ist wegen mir auch die ganze Forschungsgruppe wieder an die Uni umgezogen, damit ich ohne Treppensteigen wieder teilnehmen konnte. Obwohl ich mich in dieser Eso-Gruppe nicht recht wohl gefühlt habe – sie waren ziemlich befremdet von meinem Thema und haben daraus auch keinen Hehl gemacht – rechnete ich es ihr hoch an, und vor allem meiner Betreuerin, dass sie die lange Tradition, richtig kuschelige Diplomandentreffen in ihrer Privatwohnung (5. Etage Altbau ohne Aufzug) abzuhalten, aufgab.

Obwohl ich noch nicht so recht wusste, was genau ich damit eigentlich anfangen wollte, habe ich nach dem Studium dieses Blog gestartet. Aber zunächst einmal ging es in den wohlverdienten Urlaub!


Die frischgebackene Diplompsychologin entspannt sich in der Hängematte
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*Das fand ich bei ausschließlich schriftlichen Prüfungen und extrem guter Vorbereitung schon ein bisschen heftig. Erst später erfuhr ich, dass H. (48 J.) schon im 13. Semester war und nicht das erste Mal kurz vor dem Vordiplom kapitulierte. Tatsächlich befinden sich unter Psychologiestudenten – natürlich ebenso unter Studierenden anderer Fächer – immer wieder Menschen, die – sagen wir mal – evtl. von einer Therapie profitieren könnten. Unglücklicherweise scheitern nicht alle „Bedürftigen“ an der Hürde Vordiplom oder Diplom. Und es kommt bisweilen vor, dass nach dem Studium auch noch eine dreijährige Ausbildung zum Psychotherapeuten drangehängt wird.

XIII – Stationen 1999-2001

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII, Teil VIII, Teil IX, Nachtrag zu IX, Teil X, Teil XI, Teil XII

Es begann eine richtig intensive Zeit als Studentin und als Single auf Probe*. Zu Beginn eines Studiums ist glücklicherweise die Orientierung noch sehr stark, da man bis zum Vordiplom viel mit anderen Studierenden zusammen ist, zumal ja alle die gleichen Vorleistungen bringen müssen. Es gibt regen Austausch, und Arbeits– und Lerngruppen entstehen. Was ich auch sehr genossen habe, war, dass ich von Anfang an keine anonyme Figur unter vielen war, denn ich hatte natürlich durch mein Hilfsmittel einen hohen Wiedererkennungswert. Deshalb wurde ich schon im ersten Semester von vielen Professoren freundlich gegrüßt und in den einen oder anderen Fahrstuhlplausch verwickelt. Ich fühle mich schnell irgendwo wohl und heimisch, wenn mich freundlich zugewandtes Wiedererkennen umgibt.

5th Floor Lecture Hall

Eine Herausforderung im Grundstudium war, dass ein halbjähriges Praktikum absolviert sein musste. Da war ich richtig beglückt, als ich schon bald auf die scheinbar ideale Praktikumsstelle in der Sexualberatung des UKE stieß. Dieses Praktikum erstreckte sich zwar über zwei Semester, nahm aber nur die halbe Wochenzeit in Anspruch, so dass ich weiterhin meinem Job im Callcenter hätte nachkommen können. Doch daraus wurde leider nichts. Damals hatte ich den Eindruck, dass es Berührungsängste mit meinem Handikap gab. Also suchte ich weiter.

Im Wintersemester 1999/2000 absolvierte ich dann ohne jeden Skrupel als ungläubige Ex-Katholikin eine Ausbildung zur Telefon- und E-Mail Seelsorgerin bei der Evangelischen Studierendengemeinde und war dort vier Semester lang ehrenamtlich tätig. Die Tätigkeit umfasste die wöchentliche Supervision durch eine Psychologin, 2-3 Telefondienste im Monat und 20-24 Uhr bzw. Bereitschaftszeiten für die E-Mail Bearbeitung. Als ich fast damit fertig war, habe ich erfahren, dass allein meine berufliche Qualifikation ausreichend gewesen wäre. Somit habe ich mir wenigstens den Praktikumsbericht erspart. Mit der Vorbereitung aufs Vordiplom – sieben schriftliche Prüfungen – gab es ohnehin genug zu tun.

*Das klingt natürlich viel harmloser als es tatsächlich war. Aus der Trennung auf Probe wurde eine perfide Drei-bis-Fünfecksgeschichte, die schließlich zu einer endgültigen sehr schmerzhaften Trennung führte. Parallel dazu führte ich das Leben einer engagierten Studentin und das einer inzwischen freigestellten Schriftführerin mit festen Arbeitszeiten im Betriebsrat. Als die durchweinten Nächte weniger wurden, suchte ich mir ganz bewusst ein kleines feines italienisches Stammcafé, das ich hinfort mit Büchern und Unterlagen bewaffnet fast täglich besuchte. Bei schönem Wetter gehörte ich, wie mir Cafébesucher mitteilten, bald irgendwie zum Stadtbild.

Wie ihr hier sehen könnt, habe ich die letzte Prüfung in Entwicklungspsychologie leider etwas versemmelt, da ich mich kurz zuvor Hals über Kopf in den Aushilfskoch des Cafés verliebt habe.

Ach ja, und nach dem Vordiplom habe ich mir Gesangsunterricht und Hippotherapie gegönnt.

Fortsetzung

XII – Stationen 99

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII, Teil VIII, Teil IX, Nachtrag zu IX, Teil X, Teil XI

Nun war ich also an der Uni. Ich hatte sogar eine Parkberechtigung für die Tiefgarage direkt unter der Fakultät. Was ich allerdings nicht bedacht hatte, waren die Wanderungen zwischen den Vorlesungen und Seminaren. Im Grundstudium fanden einige Vorlesungen auch im Hauptgebäude und im Philosophen-Turm statt, wo ich natürlich keinen eigenen Parkplatz hatte.

Was tun? Mein Aktionsradius in freihändigem Gehen betrug mit äußerster Mühe maximal 400 – 500 m. Was allerdings fast noch schwieriger als Gehen war, war Stehen. Und es ergibt sich ja doch das eine oder andere Gespräch zwischen den Vorlesungen. So zerbrach ich mir den Kopf, mit welcher Konstruktion ich diesen Notstand abschaffen könnte. Ein Stock war keine Lösung. Mit Hilfsmitteln generell war ich nicht gerade vertraut, denn ich mied Selbsthilfegruppen wie der Teufel das Weihwasser. Ich überlegte ernsthaft, ob ich mir einen Rucksack mit einem kleinen Klappstühlchen drin oder dran anschaffen sollte, welches ich dann bei Bedarf herauszaubern und mich draufsetzen könnte. Leider habe ich nichts Geeignetes gefunden. Doch eines Tages sah ich die Lösung! Ich beobachtete eine betagte Frau, die wacklig mit einem Rollator unterwegs war, anhielt und sich erschöpft auf ein Querbrett setzte.

New York City - Old Woman in Brighton Beach - Little Odessa

Das war’s! Sofort ging ich zu meiner Ärztin und ließ mir dieses Hilfsmittel verordnen. (Einen Rollstuhl, in dem ich auf längeren Strecken geschoben werden konnte, hatte ich schon seit 1991, nachdem ich mir mal einen für den Besuch einer Messe ausgeliehen hatte). Dass ich mich mit diesem Teil nun eindeutig als Behinderte outete, hatte eigentlich nur Vorteile. Endlich hörte auch das Tuscheln hinter meinem Rücken auf, dass ich wohl schon am frühen Morgen zu tief ins Glas geschaut habe, denn ab einem gewissen Erschöpfungsgrad torkelte ich regelmäßig.

Fortsetzung

XI – Berufliche Wege und Stationen 95-98

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII, Teil VIII, Teil IX, Nachtrag zu IX, Teil X

Natürlich habe ich nie bei einer Erotikhotline gearbeitet. Eine Freundin vermittelte mir jedoch 1995 nach dem Tod meines aidskranken Freundes im Rahmen der Hinzuverdienstgrenzen einen Minijob bei der sogenannten Kündiger-Rückgewinnung von Gruner & Jahr, also im aktiven Telefonmarketing eines aufstrebenden Callcenters. Etwa ein Jahr später reaktivierte ich die Spendierlaune von Greenpeace-Fördermitgliedern. 1997 durfte ich dann endlich ins passive Telefonmarketing wechseln und zwar zuerst in das Servicecenter von Bofrost, später in den Spiegel-Abonnentenservice. Außerdem wurde ich in den Betriebsrat der Firma gewählt.

Eines Abends, ich erinnere es wie heute, wartete ich nach der Abendschicht auf den Fahrstuhl, als mich blitzartig und scheinbar aus heiterem Himmel ein Gedanke überfiel – wahrscheinlich getriggert durch die beiden Studenten, die mit mir im Betriebsrat saßen und den vielen die neben mir telefonierten: Warum sollte ich nicht auf meine alten Tage hin (ich war 43 Jahre alt) ein Studium ins Auge fassen? Schließlich gab es auch noch andere sitzende Tätigkeiten, die vermutlich mehr meiner Begabung entsprechen und meiner Neigung sowieso.

Es muss doch für „spätberufene Psychologinnen“ einen gangbaren Weg geben, auch ohne vorher langwierig das Abitur nachzuholen. Unmittelbar fühlte ich, dass dies ein sehr ernsthafter und überaus gewichtiger Anfangsgedanke war, der richtig viel Energie im Gepäck hatte.

Schon wenige Tage später fand ich mich in der Universität vor den Informationsbroschüren wieder, und dort entdeckte ich wie ferngesteuert meinen Weg: Damals § 31a des Hamburgischen Hochschulgesetzes. Kaum hatte ich alles durchgelesen, saß ich auch schon an meiner Bewerbung. Im Haushalt gab es weder Computer noch Schreibmaschine, aber meine Nachbarin stellte mir ihre zur Verfügung. Jetzt musste ich nur noch die paar Monate bis zum Bewerbungszeitraum überbrücken und danach noch weitere bis zu den Klausuren und schließlich bis zur mündlichen Prüfung. Außerdem musste ich noch ein Gespräch mit einem Professor des angestrebten Studienfaches führen.

Zur Vorbereitung der Klausuren, auf die man sich eigentlich gar nicht vorbereiten konnte, da die jeweiligen Themen nie bekannt sind, abonnierte ich erst einmal eine gute Wochenzeitung. Außerdem wählte ich mein Fernsehprogramm sorgfältiger aus, denn ich wusste zumindest, dass die erste Klausur immer ein gesellschaftliches Thema behandelt und die zweite ein Thema aus dem beruflichen Umfeld. Also habe ich diese Zeitung immer komplett vom ersten bis zum letzten Wort durchgelesen. Und was das Thema aus dem beruflichen Umfeld anbelangte, fühlte ich mich allein durch mein Engagement im Betriebsrat ganz gut vorbereitet. Für jede Klausur hatte man 3 Stunden Zeit. Alles lief super.

Geradezu brillant lief die mündliche Prüfung, obwohl der Tag mit Schwierigkeiten begann. Man will ja gut aussehen an so einem Tag. Also mussten es die Schühchen mit den Ledersohlen sein, denn die passten am besten zum Wohlfühloutfit. Dass das ein Fehler war, erkannte ich leider erst als ich fast unten auf der Straße stand. Sie war komplett mit Neuschnee bedeckt. Was tun? Meine Energie reichte krankheitsbedingt nicht mehr für die 80 Stufen nach oben zum Schuhe wechseln und wieder 80 Stufen nach unten. Also habe ich meine Nachbarin* rausgeklingelt, sie solle mir bitte ein Taxi rufen und mich danach am Arm bis zur Beifahrertür begleiten. Leider gab es vor dem Hauptgebäude der Uni in der vorlesungsfreien Zeit kein Parkmöglichkeit, doch der Taxifahrer war unglaublich nett und stellte sein Gefährt einfach mit Warnblinke auf der sechsspurigen Edmund Siemens Allee ab und geleitete mich sicher über den gesamten Vorplatz.

Ich war so glücklich und geradezu euphorisiert, als ich wohlbehalten im Gebäude stand. Jetzt konnte einfach nichts mehr schief gehen. Meine Ausstrahlung war entsprechend, und die mündliche Prüfung konnte gar nicht besser laufen. Zum krönenden Abschluss hielt ich meine Note in der Hand, mit der ich mich bei der ZVS um einen Studienplatz bereits für das kommende Semester bewerben durfte. Der Notendurchschnitt aus den Klausuren, der Bewerbung und der mündlichen Prüfung (in meinem Fall 1,2) zählt wie eine Abiturnote und unterliegt genauso dem gewohnt strengen NC für Psychologie.

Knapp ein Jahr nach dem beflügelnden Anfangsgedanken hatte ich also meine Studienberechtigung.

Fortsetzung

X – Berufliche Wege und Stationen 93-95

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII, Teil VIII, Teil IX, Nachtrag zu IX,

Meine Analyse war ja erst einmal beendet. Doch nach einer angemessenen Pause wollte ich wieder in die Arbeit an mir selbst einsteigen; nur dieses Mal nicht als Einzelperson, sondern als Teil einer Gruppe. Gemäß meiner Ambitionen wählte ich etwas mit Ausbildungscharakter und zwar Self Effectiveness Training (SET) bei Calumed e.V.*, weil die damals noch über drei Jahre verteilten Trainingsblöcke mit der Option Weiterbildung zum Atemtherapeuten angelegt waren.

Nach einer Phase der Selbsterfahrung verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Vertiefung der theoretischen Grundlagen und die Behandlung von Klienten (unter Supervision natürlich). Danach, so hatte ich das vor, wollte ich wenigstens den Heilpraktiker für Psychotherapie, den sogenannten „kleinen Heilpraktiker“ machen. Hochmotiviert organisierte ich mir schon mal alle Materialien für einen Crashkurs und den Tölle.

Diese Art von Lernen bereitete mir allerdings gar keine Freude. Außerdem nahm mich eine andere große Aufgabe immer mehr in Beschlag: Ein todkranker Freund (Aids im Endstadium) brauchte rund um die Uhr Betreuung, welche ich neben dem Pflegedienst im Freundeskreis organisierte und oftmals selbst am Bett saß oder seine Lieblingsspeisen zubereitete**.

Zudem wurde bald das Haushaltseinkommen knapp. Mehr dazu hier...

*Zu den Menschen dieses Vereins hatte ich schon seit Beginn meiner sieben Jahre währenden esoterischen Phase Kontakt, nämlich seit einem Schwitzhütten-Sommercamp 1989 mit Larson T. Medicinehorse und Dan Old Elk, beides Crow Sundance Chiefs aus Montana.

Daybreak Star 06

Daher kannte ich auch T., den Grund für meinen Ortswechsel. Damals konnte ich ihn überhaupt nicht ausstehen. Auch eine gemeinsame Freundin sagte einmal: Man muss ihn schon lieben, um ihn zu mögen! Im Camp wurde er von Larson T. Medicinehorse zum Schwitzhüttenleiter autorisiert. Er war nicht nur mächtig stolz, sondern direkt überheblich, fand ich jedenfalls…

In dieser Campwoche gab es noch eine nette Begebenheit, die ich euch nicht vorenthalten will: Im Talking Circle verkündete Dan Old Elk eines Tages, dass er T. nun auch einen indianischen Namen geben wolle und zwar „Walking Eagle“. Man konnte förmlich sehen, wie T. augenblicklich größer wurde und wie die Brust anschwoll, freilich nur bis zur Erläuterung: Walking Eagle, verkündet Dan gewichtig, means „full of shit, cannot fly!“ Natürlich folgte großes Gelächter, was T. erstaunlich gut wegsteckte, zumindest hat er das Ganze als Lektion aufgefasst.: )

** Bei einem längeren Hamburg-Aufenthalt 1992 hatte ich schon mal eine Sterbebegleitung in einem Hospiz gemacht, weil einem Freund, der das Hospiz mit überwiegend Aidskranken leitete, in der Sommerzeit hinten und vorne die Begleiter fehlten. Damals saß ich am Bett einer Frau, die so alt wie ich war und auch noch gleich hieß. Es war das erste Mal, dass ich dabei sein durfte, als ein Mensch den letzten Atemzug tat. Das war ein ganz großer Moment…

Fortsetzung

IX – Nachtrag

zu Teil IX

Ich habe festgestellt, dass ich doch ein klein wenig weiter ausholen muss und neben einem bisschen Krankengeschichte auch noch das ein oder andere Bruchstück meiner Beziehungsgeschichte hineinweben muss, damit Sie die nächste Station plausibel nachvollziehen können.

1991 hatte ich den Schub meines Lebens, von dem ich mich nur langsam und nie wieder ganz erholt habe. Daraufhin wurde mir von der Krankenkasse nahegelegt, nun endlich EU-Rente zu beantragen, was ich dann auch schweren Herzens tat. Und weil bei mir ein einschneidendes Ereignis nicht selten einen weiteren radikalen Wandel nach sich zog – so war es schon 1988, als ich mich nur wenige Monate nach einer Fehlgeburt (nach zehn Jahren unerfülltem Kinderwunsch) unsterblich in den bereits erwähnten Zivi verliebte, mich in einem schmerzhaften Prozess von meinem ersten Mann löste und währenddessen auch noch die endgültige Diagnose erfuhr – verliebte sich der damalige Trennungsgrund wenige Monate nach dem Schub in eine weitere Frau und wünschte sich fortan eine libertäre ménage à trois, für die ich leider nicht geschaffen war und ihn mir folglich schweren Herzens aus demselben riss.

Der Vollständigkeit halber sollte ich jetzt vielleicht auch noch erwähnen, dass ich mir seit 1989 eine Psychoanalyse angedeihen ließ, so richtig mit Couch und phasenweise klassisch dreimal wöchentlichen Sitzungen. Nachdem meine Beschwerden mit einer Diagnose gelabelt waren, meinte nämlich ein schwerkranker Bekannter, dass bei einer sogenannten „großen Krankheit“ eine Psychoanalyse nie verkehrt sei und gab mir die Adresse seines Analytikers.

Ich war sehr überrascht, dass dieser die Nachbarvilla meiner zukünftigen Bleibe in der Hopfenburg, die damals gerade aufwändig saniert wurde, bewohnte und nahm es als Wink des Schicksals.

Erwähnenswert, weil vielleicht auch ein bisschen wegweisend, ist noch, dass ich als Patientin an einer einwöchigen Fortbildung in psychoanalytischer Gestalttherapie, die er als Leiter eines Ausbildungsinstituts durchführte, teilnehmen durfte.

Obwohl ich für meine Liebeszukunft damals ziemlich schwarz sah, stufte ich mich doch in meinen dunkelsten Stunden als äußerst „schwer vermittelbar“ ein, verliebte ich mich bereits 1992 wieder vorsichtig in einen Hamburger Freund, der mich monatelang heftigst umwarb. Er war schließlich der Grund dafür, dass ich mich nach einem dreiviertel Jahr Fernbeziehung 1993 ganz in Hamburg niederließ. Interessanterweise kam 92 auch meine Analyse zum Abschluss und mein Analytiker zog seinerseits nach Hamburg.

Leider habe ich die amtsärztliche Überprüfung, dass von mir als zukünftiger Heilpraktikerin keine Gefahr für die Volksgesundheit ausgeht, nicht abgelegt, da ich ja den Regierungsbezirk verließ. Nachdem in Hamburg die Wartezeit bis zur Überprüfung fast zwei Jahre betrug, verlor sich die Motivation, mein anatomisches und physiologisches Wissen über diesen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten. Außerdem reizte mich die überwiegend somatische Herangehensweise an Krankheiten inzwischen weniger.

Fortsetzung

IX – Berufliche Wege und Stationen 90-93

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII, Teil VIII

Also beschloss ich, mich nicht weiter abzumühen. Desillusioniert und deprimiert, galt ich doch zuvor als Säule in der Arbeit mit behinderten Menschen, zog ich mich nun ganz zurück, nachdem ich seit 1980 sogar während akuter Schübe gearbeitet hatte. Ich reflektierte mein Verhalten in der Vergangenheit, genauer mein Überengagement, und musste realisieren, dass ich wohl ziemlich übertrieben hatte.

Da ich mich nicht als einzige an diesem Syndrom Leidende in leitender Funktion erkannte, kam mir die Struktur der ganzen Institution auf einmal einigermaßen ungesund vor. – Lauter Leidende in leitender Stellung, quasi ; ) Trotz Enttäuschung und Sorge um meine Zukunft, fühlte ich mich geradezu erleichtert, mich einmal von allem lösen zu können. Ich beschloss aber, Sie ahnen es vielleicht schon, meinen Krankenstand lernend auszufüllen.

Weil ich, trotz allem, meiner Neigung, mit Menschen zu arbeiten und sie zu begleiten, gerecht werden wollte und hinsichtlich einer möglichen selbstständigen Tätigkeit, begann ich an dieser Tagesschule eine fundierte 2 1/2-jährige Ausbildung zur Heilpraktikerin. Zudem hielt ich den Zugang zu alternativen Heilmethoden auch für mich persönlich nicht verkehrt.

Wir waren gerade mal acht Schüler und genossen einen sehr lebendigen und spannenden Unterricht. Ich fühlte mich absolut am richtigen Ort. Neben Anatomie, Physiologie und Diagnostik waren meine liebsten Fächer Phytotherapie und das elegante System der Homöopathie, dem ich mich auch heute noch verbunden fühle, obwohl die Wirkungsweise wissenschaftlich (noch) nicht erklärbar ist.

Mit traditionell chinesischer Medizin, vor allem Akupunktur, konnte ich dagegen nicht so viel anfangen. Vielleicht hat mir das Professor Li ein bisschen versaut, der ein paar Wochen an der Schule unterrichtete und nebenbei auch praktizierte.

Selbstverständlich wollte ich mich von so einer Koryphäe behandeln lassen. Komisch fand ich nur, dass ich vorher so viel ausziehen sollte, und dass nach dem Setzen der Nadeln auch noch ganz ausgiebig mein Busen von Hand bearbeitet werden musste. Ich war äußerst irritiert, aber einem Professor mit ernster und wichtiger Miene widerspricht man ja nicht so einfach. Doch das Verhalten erinnerte mich schon sehr an einen anderen übergriffigen Arzt aus meiner Jugend. Für die nächste Behandlung sorgte ich vor. Ich vereinbarte mit einem Mitschüler, dem ich mich anvertraute, dass er einfach mal ins Behandlungszimmer reinplatzen sollte, um zu sehen was dann passiert. Und siehe da, sofort hielt der Lustmolch inne. Alle weiteren vereinbarten Termine habe ich vom Schulleiter absagen lassen. Keine Ahnung, ob er jemals wieder eingeladen wurde.

Nachtrag

VIII – Berufliche Wege und Stationen 86-90

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI, Teil VII

Nach sechs Monaten sollte ich nun also endlich unbefristet eine ausscheidende, langjährige Mitarbeiterin wiederum im Schwerbehindertenbereich ersetzen. Ich kannte fast alle der neun jungen Erwachsenen von damaligen Nachbargruppen und durch diverse Nachtwachen zwischen 1973 und 76 und freute mich darauf. Seinerzeit waren es natürlich noch Kinder, acht Jungs und ein Mädchen, die berühmt berüchtigte Alexandra!

Alexandra galt einst als schlimmster Fall der gesamten Einrichtung. Ich erspare Ihnen die grauenhaften Szenarien und Selbstverletzungen. In ihrer Hilflosigkeit entschieden sich Psychiater irgendwann für einen neurochirurgischen Eingriff – ein Experiment, mit dem man die unvorstellbaren Autoaggressionen in den Griff zu bekommen versuchte. Den Narben nach war es etwas Größeres, wahrscheinlich irgendetwas zwischen Lobotomie und stereotaktischer Operation, was weiß ich. Ich fand die Krankenakte diesbezüglich auffallend lückenhaft. Ein zweites „Experiment“, auch vor meiner Zeit, betraf unseren Herri, der eine zeitlang mittels Androcur kastriert wurde, weil er anscheinend der Heimleiterin an den Busen gefasst hatte. Ich gebe zu, dass man schon richtig Angst vor ihm kriegen konnte, aber eben auch vor drei weiteren Kandidaten dieser Gruppe, denen diese Behandlung erspart blieb.

Bei den meisten wurde inzwischen das Maximum an lebenspraktischen Fertigkeiten erreicht, und der Schwerpunkt war, jedem einen angemessenen Rahmen für sein So-Sein zuzugestehen und trotzdem einen einigermaßen reibungslosen Tagesablauf zu gewährleisten. Eine nicht ganz leichte Aufgabe, denn auch hier gab es unterschiedlichste Anforderungen zu meistern: starke Epileptiker mit latent drohendem Status epilepticus, und wie schon erwähnt, Autoaggressive, Aggressive und Tobsüchtige. Ein wichtiges Arbeitsinstrument war die geschärfte Beobachtungsgabe, da sowohl Epileptiker, als auch Erregte mit sogenannter Bedarfsmedikation in den Griff zu bekommen waren.

Wie bereits in der letzten Fortsetzung angesprochen, ging der Trend weg von der hohen Dauermedikation, die die Heimbewohner bisher in ihren Lernmöglichkeiten und Lebensäußerungen stark behinderte. Ich kann mich noch gut an die ruhig gestellten Zombies aus Anstaltszeiten erinnern, bei deren Anblick es einem trotzdem eiskalt über den Rücken lief. Ich glaube, besonders meine Beobachtungsgabe, eine klare und konsequente Natur ohne viele Worte und Intuition waren meine Stärken. Interaktionen mit Geri waren beispielsweise besonders riskant. Er hat mich gelehrt, eher beiläufig und ruhig zu agieren und Blickkontakt zu vermeiden. So entwickelte ich mich bald zur „Geri-Flüsterin“.

Schwerpunkt im Tagesablauf waren die Arbeit und Arbeitsversuche in der Werkstatt für Behinderte bzw. beim Arbeitstherapeuten. In der Freizeit unternahmen wir meist Spaziergänge in der Natur. Was von mir früher eher belächelt wurde, war in Anbetracht der Umstände die effektivste Möglichkeit, bei den Unruhigen Überschuss zu kanalisieren und die etwas Trägeren zu mobilisieren. Als kreatives Projekt haben zwei Kollegen und ich gruppen- und heimübergreifend eine Schwarzlicht-Theatergruppe mit schwerbehinderten Darstellern ins Leben gerufen. Was sich kaum einer vorstellen konnte, hat erstaunlich gut funktioniert. Das war eine tolle und kreative Phase, so recht nach meinem Geschmack.

Mein Engagement verhalf mir in kurzer Zeit zu einer führenden Rolle im Team. Und da im gesamten Bereich wieder klarere Hierarchien angestrebt wurden, wählten mich meine Kollegen in Absprache mit der Heimleitung zur Gruppenleiterin. Bevor ich die Leitung antrat, erwarb ich in mehreren Seminaren die Zusatzqualifikation zur Wohngruppenleiterin. Mit neuem Wissen ausgestattet, gelang es mir bald, beispielsweise die wöchentliche Gruppenbesprechung – eine ewige Baustelle in den allermeisten Teams – effizienter zu gestalten, quasi vom Kaffeeklatsch zum Ergebnisprotokoll zu gelangen.

Vor die Herausforderung einer progressiven Erkrankung* gestellt, wurde ich leider ausgebremst und war eines Tages gezwungen, meine berufliche Weiterentwicklung, diesem Umstand gerecht werdend, zu planen. Ich wollte weiterhin in der Einrichtung bleiben und für Behinderte oder / und deren Betreuer und Eltern arbeiten, aber eben überwiegend sitzend. Also strebte ich die Ausbildung zur Heilpädagogin an. Vom Arbeitsamt wurde mir jedoch mitgeteilt, dass ich mit diesem Krankheitsbild am Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähig sei, und die Maßnahme nur finanziert werden würde, wenn ich einen zukünftigen Arbeitsplatz nachweisen könne.

Ich sprach also an allerhöchster Stelle direkt bei unserem Monsignore, dem Direktor der Einrichtung, vor. Obwohl ein Heilpädagoge, auf dessen Stelle ich insgeheim spekulierte, schon ziemlich alt war, und trotz wohlwollender Anteilnahme und der Feststellung, dass ich eine Säule in der Behindertenarbeit sei, erhielt ich später einen abschlägigen Bescheid. Möglicherweise lag es, neben der tatsächlich schlechten Krankheitsprognose, an meinem für eine kirchliche Einrichtung skandalösen Lebenswandel. Ich hatte mich nämlich von meinem Mann getrennt, hatte ein Verhältnis mit einem wesentlich jüngeren Zivi und war außerdem aus der Kirche ausgetreten.

Nach einer Reha-Maßnahme verschlechterte sich mein Zustand fortschreitend, sodass ich den Gruppenalltag kaum mehr meistern konnte. Mir wurden dann einfach Verwaltungstätigkeiten in einem schicken kleinen Büro angeboten. Ich sollte vom gesamten Heimbereich die Dienstpläne nachrechnen und Entwicklungsberichte für die Kostenträger schreiben, weil ich das doch eh so gut könne. Tatsächlich habe ich ein paar Wochen durchgehalten. Doch das war definitiv nicht mein Arbeitsplatz!

*Zwischen 1980 und 1985 hatte ich eigentlich nur 2-3 relativ mild verlaufende Schübe mit überwiegend Sensibilitätsstörungen. Nach einem weiteren Schub mit ersten richtigen Lähmungserscheinungen, fingen dann aber bereits diverse chronische Beschwerden an, beispielsweise begann ich nach längeren Spaziergängen gangunsicher zu torkeln und zu stolpern. Bis dahin lebte ich ganz gut mit der Verdachts-Diagnose „Rückenmarksentzündung“, weil ich es auch gar nicht so genau wissen wollte. Ganz anders der behandelnde Arzt, der wollte es nun wissen, und so ließ ich mich breitschlagen. Nach einer invasiveren Diagnostik wurde das Kind 1988 also endgültig getauft. Ich hatte es eh geahnt und war nicht überrascht. Bald fand ich heraus, dass die feststehende Diagnose einer unheilbaren Krankheit eher Nachteile hatte: hilflose Ärzte wollen einem unsinnige Therapien angedeihen lassen, wohlmeinende Mitmenschen kennen Menschen die das auch… und denen hat das geholfen, und das soll helfen, und und und. Und ich wollte einfach meine bis dahin verhältnismäßig beschwerdearmen Zwischenräume so normal wie möglich und unbehelligt leben und genießen. Und das habe ich weitestgehend auch getan.

Fortsetzung

VII – Berufliche Wege und Stationen 85-86

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI

Personal gab es bei meinem früheren Arbeitgeber zu dieser Zeit genug, daher konnte ich mir den Bereich nicht aussuchen. Ich übernahm also erst mal wieder eine Mutterschaftsvertretung, und zwar im Schwerbehinderten-Bereich.

Nachdem ich realisiert hatte, dass sich der Geist von einst irgendwie ziemlich verflüchtigt hatte, stürzte ich mich mit Elan in die Arbeit. Die ehemalige Heilpädagogin, die so großen Wert darauf legte, dass man die Heimbewohner zur Selbstständigkeit fördert wo es nur geht, war inzwischen im wohlverdienten Ruhestand.

Die Gruppe mit sieben Jugendlichen hatte ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Zum einen gab es sehr beobachtungsintensive Epileptiker, die medikamentös schwer einzustellen waren, zum anderen massiv Verhaltensgestörte, die viel Aufmerksamkeit verlangten. Dazwischen standen Behinderte, die im Lebenspraktischen, wie essen, waschen, an- und auskleiden, Toilettengänge usw. große Defizite hatten. Meines Erachtens wurde zu wenig Wert auf die Förderung gelegt. Da ich dies energisch zu ändern suchte, fühlte sich mein Kollegium bald etwas überfordert, was nach einer gewissen Zeit auch leichte Spannungen erzeugte.

In diese Zeit fiel zudem eine besondere Schwierigkeit: ein ca. 1,80 großer, kräftiger, hochgradig fremd- und autoaggressiver Jugendlicher mit Fluchttendenz und unvorstellbarer Zerstörungswut, kam von einem monatelangen Aufenthalt in der internen psychiatrischen Abteilung in den Gruppenalltag zurück. In der Psychiatrie wurde er nach strengen behavioristischen Grundsätzen therapiert, und uns oblag eine konsequente Fortführung des Begonnenen, d.h. beispielsweise punktgenaues Einhalten von Time-out und Fixierung nach katalogisiertem Fehlverhalten (meist Fremd- bzw. Autoaggressionen), was den Gruppenalltag massiv aus dem Gleichgewicht brachte und weibliches Personal besonders überforderte.

Dass behavioristische Methoden zu dieser Zeit so stark favorisiert waren, lag einerseits an einem Psychologen, der zu diesem Thema promoviert hatte, andererseits an dem Trend, hochdosierte Neuroleptika als Dauermedikation zu vermeiden. Außerdem schien das Erleben schwerbehinderter Menschen für andere Methoden kaum zugänglich zu sein.

Jedenfalls war in kürzester Zeit klar, weshalb dieser Junge in der Psychiatrie war und eigentlich nach wie vor dahin gehörte. Wenn er aus dem Gleichgewicht war, und das war er häufig, trug er einen hinten mit Fixierknopf verschlossenen Spezial-Overall, der aus dem gleichem Gewebe war, aus dem auch Zwangsjacken gefertigt sind, da er normale Kleidung – ritschratsch – entzwei riss. Meistens steckte auch unser weibliches Kraftpaket in so einem Overall.

Wenn er begann, beispielsweise seine Handballen blutig zu beißen, bekam er mindestens 4 mm dicke Lederfäustlinge ohne Daumen (so ähnlich), die ebenfalls mit Fixierknöpfen verschlossen werden mussten. Time-out bedeutete, dass er so ausgestattet, von Stimulationen weitgehend abgeschirmt, für max. 15 Minuten in sein Zimmer eingeschlossen wurde, was natürlich alles höchstrichterlich abgesegnet war. Einmal vergaß die Stationshilfe nach dem Putzen das Fenster zu sichern, und Uli konnte entkommen. Der Schaden, der in der folgenden Viertelstunde in der Umgebung angerichtet wurde, belief sich auf mehrere 1000 DM.

Auch das Bett war in kürzester Zeit kurz und klein. Die 10. Matratze wurde irgendwann mit LKW-Plane bezogen. Doch auch die hat er eines Tages klein gekriegt, sodass er in seiner schlimmsten Phase lediglich auf einer dicken Holzplatte schlief. Die Platte akzeptierte er, weil sein Zimmer inzwischen komplett von oben bis unten gefliest und mit einem Abfluss ausgestattet werden musste, da er den Raum in vielen Nächten systematisch an allen erreichbaren Stellen voll urinierte, sodass sich der Bodenbelag wölbte und die Tapeten von der Wand fielen, von dem Gestank ganz zu schweigen. In den Fenstern war Panzerglas. Keine Gefängniszelle ist so trist.

Ausgeglichen konnte er direkt zauberhaft sein. Er war in der Lage, sich selbstständig zu waschen und anzuziehen, mit Messer und Gabel zu essen. Er verstand uns und sprach selbst überwiegend Zweiwortsätze, allerdings nur, wenn er Lust dazu hatte. Er konnte auch Wäsche sortieren und falten und Betten beziehen, doch auch dazu fehlte ihm meist die Lust. Viel lieber saß er auf einer Matratze mit Überblick in den Gruppenraum und schaukelte leicht summend vor sich hin, während er das Geschehen um sich herum genauestens beobachtete. Wenn ihn etwas aus der Ruhe brachte, und das war leicht der Fall, musste man auf der Hut sein.

So war es auch eines Tages wieder. Unglücklicherweise war ich für mehrere Stunden allein in der Schicht, weil wir massive Ausfälle durch Krankheit hatten, ein absolutes Unding eigentlich. Glücklicherweise hatte ich die meisten Heimbewohner schon zur Mittagsruhe in ihre Betten verfrachtet, als Uli begann, sich in die Handballen zu beißen. Konsequent wie ich nun mal bin, griff ich entschlossen nach den Lederhandschuhen, nachdem ich zuvor kurz einen Kollegen auf einer Nachbargruppe anrief, er solle bitte zeitnah einmal nach mir schauen. Als ich schließlich auf ihn zuging, stürzte er unvermittelt wie ein Berserker auf mich los, packte mich, riss mich nieder, und dann erlebte ich alles in Zeitlupe, wie er nach meinem linken Unterarm griff und fest und immer fester ins Handgelenk biss. Irgendwann ließ er von mir ab. Ich glaube, ich habe nicht einmal geschrien, saß einfach wie paralysiert. Es war ein Albtraum. Bald kam der Kollege und brachte ihn in sein Zimmer.

Mein Handgelenk wurde auf der Krankenstation geschient und verbunden. Natürlich war auch eine Tetanusspritze fällig. Ein peripherer Nerv war lädiert. Erst nach drei Monaten verschwand das Taubheitsgefühl. Trotzdem war an eine Krankschreibung nicht zu denken. Ich wollte auch kein Weichei sein und mich durch so etwas unterkriegen lassen. Im Nachhinein wundert es mich heute noch, dass niemand, auch nicht die Heimleiterin, eine Psychologin, mal nachfragte, wie ich mit diesem Trauma klarkomme. Das war schließlich keine Kleinigkeit. Ich hätte mich wohl selbst rühren müssen, stattdessen rang ich in den folgenden Wochen so gut es ging aufkeimende Ängste nieder. Allerdings hatte ich meine Leichtigkeit verloren.

Weil die gespannte Atmosphäre anhielt, fiel mir die Entscheidung leicht, bis zu einer Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis eine angebotene Mutterschaftsvertretung auf einer anderen Gruppe wiederum im Schwerstbehinderten Bereich anzutreten. Auch dort gab es sehr auffällige Jugendliche, doch im Gegensatz zur vorherigen Gruppe, war dort Förderung groß geschrieben. Das lag überwiegend an dem Gruppenleiter, aus der Ära der Heilpädagogin und an der Kontinuität des Personals. Eine hohe Fluktuation der Mitarbeiter war gerade im Schwerbehinderten-Bereich sonst eher die Regel. Ich genoss es, meine Ideale verwirklicht zu sehen, auch wenn die Arbeit nicht leicht war, denn die Struktur dieser Heimgruppe hatte große Ähnlichkeit mit der vorigen.

Fortsetzung

VI – Berufliche Wege und Stationen 81-85

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V

Ich wollte auf jeden Fall etwas für meine Bildung tun. Also eruierte ich, was es so an einjährigen Ausbildungen gab. Auf dem Gesundheitssektor (vielleicht etwas weit ausgelegt) reizte mich Biokosmetik, und zwar an einer Schule, die besonderen Wert auf den theoretischen Unterbau legt. Ich hatte richtig Lust, mal wieder die Schulbank zu drücken und beispielsweise Anatomie und Physiologie zu lernen, sicher auch deshalb weil mir das so leicht fällt. Irgendwie habe ich da ein Programm in meinem Hirnkästchen vorinstalliert, denn obwohl ich nie Latein und Griechisch hatte, vergesse ich selten die korrekten Bezeichnungen und Zusammenhänge. Schon während der Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin glänzte ich in den Fächern Medizin und Neurologie. Zum anderen hatte ich auch einen starken inhaltlichen Bezug. Um in kürzester Zeit zu entspannen, betrieb ich nämlich die ganzen Jahre, nennen wir es, Instant-Wellness. Ich hatte eine ganzes Arsenal an Schaum- und Aromabädern, Lotions und Elixieren, Gesichtsmasken, Cremes, und und und, war also gern gesehener Gast in unserer Parfümerie.

Das Jahr an dieser Schule flog nur so dahin. Sämtliche schriftlichen und praktischen Prüfungen legte ich mit Bravour ab*, sodass der damalige Schulleiter, anstatt am Ende die mündliche Prüfung abzunehmen, mir eine Teilzeitbeschäftigung als Dozentin anbot. Sehr geschmeichelt, entschied ich mich trotzdem dagegen, da ich schon eine Praxisstelle hatte. Nur zweimal habe ich Unterrichtsvertretung gemacht und auch das dann ganz schnell beendet. Die Vermittlung der Praxis fiel mir zwar leicht, aber bei der Theorievermittlung bemerkte ich auf einmal ein gravierendes Defizit. Als ich nämlich den Begriff Desoxiribonukleinsäure in einen schwäbischen Satz einbauen wollte, war klar, das ging irgendwie gar nicht. Reines – naja fast – Hochdeutsch habe ich nämlich erst mit 37 Jahren zu sprechen begonnen, als ich nach Hamburg zog. Bis dahin war Hochdeutsch für mich Arbeiterkind eine affige Fremdsprache. Auch während meiner Schulzeit wurde wie selbstverständlich Dialekt gesprochen. Und mit dem sogenannten Akademiker-Schwäbisch war ich sowieso nicht vertraut. Dabei hätte ich wenigstens das für diesen Job gut gebrauchen können.

Während dem Berufspraktikum arbeitete ich im Kosmetiksalon einer ehemaligen Schülerin. Die Arbeit in der Kabine machte mir viel Freude. Ganz meiner vorherigen Profession getreu, lag mir viel daran, das Vertrauen vor allem junger Klienten mit Akne zu gewinnen, denn das ist bei diesem Problem schon mal die halbe Miete. Da der Salon in dem kleinen Ort zu wenig abwarf, war die Inhaberin leider gezwungen, ihr Geschäft aufzugeben.

Aus dieser Zeit ist mir ein Tag, an dem ich zwei gleichaltrige Kundinnen hintereinander auf der Kosmetikliege hatte, ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Kunden trug einen blauen Faltenrock und eine weiße hochgeschlossene Bluse. Die akurate Haarspray-Frisur war dunkel gefärbt und wie geleckt, die Gesichtshaut beneidenswert glatt, und das mit Ende 50! Gleich im Anschluss kam die andere Kundin im legeren Freizeitlook. Sie hatte wild gelocktes, graumeliertes Haar und ein Faltenrelief, dem man Gelebtes, Lachen und Leiden ansehen konnte. Dreimal dürfen Sie raten, welche Frau jünger aussah.

Mehr aus persönlicherem Interesse besuchte ich in dieser Zeit dann noch das Seminar ‚Heilkräuter-Essenz-Therapie‘, ein sinnliches Behandlungskonzept mit ätherischen Ölen, das der Schulleiter zusammen mit seiner damaligen Frau entwickelt hat, bevor er esoterisch abhob.

Ich wechselte also den Salon. Dort wurde ich unglücklicherweise überwiegend in der Verkaufsberatung eingesetzt, was nicht so mein Ding war, und ich vermisste die regelmäßige Arbeit in der Kabine sehr. Zudem ließ die finanzielle Lage des Geschäftes nur Teilzeitbeschäftigung zu. Daraufhin erwog ich nur kurz, mich selbstständig zu machen und verwarf die Idee mangels Rentabilität. Erneut fand ich eine Teilzeitstelle in einem sehr altertümlichen Kosmetiksalon. Die ebenfalls altertümliche Chefin stellte mir in Aussicht, eines Tages ihr Geschäft zu übernehmen. Bald wurde mir jedoch klar, dass man diese Frau mit den Füßen voran hinaus tragen muss, bevor es Platz für eine Nachfolgerin gibt. Also strebte ich den Wiedereinstieg als Heilerziehungspflegerin an.

*In meinem Abschlusszeugnis steht unter anderem: Frau Faust hat außerordentliche Fähigkeiten, den Beruf der Kosmetikerin mit viel Liebe und Geschick auszuüben. Durch Ihre schnelle Beobachtungs- und Auffassungsgabe führt sie jede Behandlung mit großem Erfolg durch. Gründlichkeit, Fleiß und eine hervorragende Begabung für ganzheitliches lebendiges Denken brachten Frau Faust ausgezeichnete Leistungen in den theoretischen Fächern ein. Ihr Fachwissen steht den praktischen Fähigkeiten in nichts nach, sondern ergänzt das Bild ihrer Begabung.

Fortsetzung