Adler gegen Klapperschlangen

Es ist mal wieder an der Zeit ein klassisches psychologisches Experiment im Zusammenhang mit sozialen Gruppen vorzustellen:

  • Mit dem Ferienlagerexperiment, das in den 50er Jahren von dem Sozialpsychologen Muzafer Sherif durchgeführt wurde, konnte gezeigt werden, was notwendig ist, um Stereotype abzubauen, und dass es nicht ausreicht, einfach genügend Kontakt zwischen rivalisierenden Gruppen herzustellen. Es stellt einen Meilenstein in der Konfliktforschung dar.

    Bildquelle: brainz

  • Auch sehr spannend in diesem Zusammenhang sind die Minimalgruppen-Experimente des Sozialpsychologen Henri Tajfel. Sein Kandinsky/Klee-Experiment (1971), bei dem Versuchspersonen völlig willkürlich in zwei Gruppen eingeteilt wurden, zeigte, dass die bloße Gruppenzugehörigkeit als Ursache für Diskriminierung ausreichen kann.

Das Milgram-Experiment

Das aufsehenerregende Experiment wurde Anfang der 60er Jahre von Stanley Milgram durchgeführt, um aufzuzeigen, wie sich Menschen unter Einfluss von Autorität verhalten, einer Autorität, die keine Gewalt ausübt. Es stellt gewissermaßen eine Fortsetzung des Konformitäts-Experiments des amerikanischen Psychologen Asch dar. Aus der Ausgangsfrage erwuchs ein komplexes Gebilde weiterführender Fragen, die dazu führten, dass das ursprüngliche Experiment 18-mal variiert wurde. Die Motivation für diese Experimentalreihe lieferten die Ereignisse des 2. Weltkrieges. Warum waren unter der Naziherrschaft so viele Menschen bereit, sich in den Dienst einer Tötungsmaschinerie zu stellen? Lag es an einem Charakterfehler dieser Menschen oder gibt es Situationen, in denen möglicherweise jeder in der Lage wäre, andere Menschen zu quälen und zu töten?

Das Milgram-Experiment ist eines der bekanntesten, aber auch umstrittensten Experimente der Psychologie und verursachte seinerzeit große Aufregung. 1970 wurde das Experiment in Deutschland wiederholt. Dabei entstand der Film „ABRAHAM – Ein Versuch“.

Der Grundaufbau

Das Experiment wurde an der Yale Universität in New Haven, USA durchgeführt. Die Versuchspersonen (im Folgenden Vpn), die sich auf eine Zeitungsannonce meldeten, stammten aus allen sozialen Schichten und Berufsfeldern. Zunächst handelte es sich um Männer zwischen 20 und 50 Jahren. Die Teilnahme am Experiment wurde mit vier Dollar bezahlt. Bei der Ankunft im Labor lernte jeder Teilnehmer den „wissenschaftlichen Versuchsleiter“ (im Folgenden Vl) kennen und traf einen weiteren Teilnehmer, den „Schüler“, der in seine Rolle eingeweiht war. Nachdem der Vl das „Lernexperiment“, bei dem es sich angeblich um die Auswirkung von Bestrafung auf die Lernfähigkeit handelte, erklärt hatte, wurden die Rollen durch ein manipuliertes Losverfahren festgelegt. Die echte Vp wurde zum Lehrer. Der Schüler nahm in einem Nebenraum auf einer Art „elektrischem Stuhl“ Platz und wurde dort festgebunden, um angeblich starke Bewegungen während des Schocks zu vermeiden.

Stanley Milgram und sein Schockgenerator

Nachdem die Vp (Lehrer) einen Probeschock von 45 V bekommen hatte, setzt sie sich in dem anderen Raum vor den Schockgenerator, an dem sich 30 Schalter mit einer Skala von 15 V bis 450 V befanden. Zusätzlich befand sich dort noch eine Einteilung von „leichtem Schock“ bis „Gefahr: Bedrohlicher Schock“.

Der Schüler sollte nun Wortpaare lernen und für jeden Fehler mit Stromschlägen bestraft werden, wobei nach jeder falschen Antwort die Voltzahl um 15 V erhöht werden sollte. Gab der Schüler keine Antwort, sollte dies als falsche Antwort gewertet werden. Der Vl erklärte, dass die Schocks zwar äußerst schmerzhaft sein können, jedoch keine bleibenden Gewebsschäden hinterlassen würden.

Im Spielfilm „I wie Ikarus“ (F, 1979) von Henri Verneuil wird das Experiment in einer längeren Szene nachgestellt:

Der Lehrer wusste nicht, dass das Opfer natürlich keine Schocks erhielt und die Schmerzensschreie und Proteste, die nach den ersten Versuchen (ohne Rückkopplung) zum Standard wurden, nur gespielt waren. Der Versuch wurde als beendet betrachtet, wenn die Vp das Experiment frühzeitig abbrach (erst nachdem vier verschiedene, festgelegte Aufforderungen des Vls, die Vpn zum Fortsetzen des Experiments zu bewegen, scheiterten), oder wenn sie dem Schüler drei mal die höchste Schockstufe zugefügt hatte. Nach Beendigung des Versuchs fand jeweils eine Nachbesprechung statt.

Ergebnis des Grundexperiments

Das Ergebnis der ersten Versuche war schockierend. Fast 2/3 der Vpn waren gehorsam und gingen bis zur höchsten Schockstufe. Keine Person endete vor 300 V. Allerdings waren die Proteste des Opfers kaum wahrnehmbar, es beschwerte sich erst bei 300 V durch Schläge gegen die Wand.

Varianten des Grundexperiments und deren Ergebnisse
Für Milgram stellte sich die Frage, ab welchem Punkt die Vpn „ungehorsam“ werden würden, welche Bedingungen geschaffen werden müssten, damit eine Person den Befehlen des Vls nicht mehr Folge leisten würde. Er begann, den Versuchsablauf zu variieren, wobei das Ergebnis eines jeden Experiments neue Fragen aufwarf, denen Milgram nachzugehen versuchte.

So veränderte Milgram beispielsweise die Distanz zwischen der Vp und dem Opfer, wobei sich herausstellte, dass bei größerer Nähe die Gehorsamsverweigerung signifikant zunahm. Bei akustischer Rückkopplung waren 62,5%, bei Raumnähe 40% und in Berührungsnähe 30% gehorsam.

Des weiteren wurden die Proteste des Schülers vehementer, er beklagte sich sogar über einen Herzfehler (65%) und ging nur unter Vorbedingungen in das Experiment (40%). Auch wurde das Personal gewechselt (50%).

Um einen institutionellen Zusammenhang zu überprüfen, wurde das Experiment in ein etwas verwahrlostes Bürohaus einer „unbekannten Institution“ verlegt, doch auch hier veränderte sich wenig am Ergebnis. Allerdings verweigerten die einzigen zwei Personen den Gehorsam schon zu Beginn (47,5%)

Teilweise signifikante Veränderungen wurden bei weiteren Versuchen festgestellt. Verließ z.B. der Vl den Raum und gab seine Anweisungen nur über Telefon, sank die Gehorsamsbereitschaft erheblich, und viele Vpn verabreichten wesentlich niedrigere Schocks als sie vorgaben (20,5%). Bei einem anderen Versuch wurde ihnen die zu verabreichende Schockhöhe freigestellt (2,5%). Dabei hat sich gezeigt, dass die Vpn nicht grundsätzlich aggressiv oder sadistisch waren. Nur zwei Personen vergaben mehr als 150 V, die meisten verabreichten noch geringere Schocks (ab 150 V wurden die Proteste des Schülers stark, er bat jeweils darum, aus dem Experiment entlassen zu werden.)

Es gab eine Reihe von Experimenten, in der die Grundstruktur der Versuche geändert wurde. Hier ging es um die Elemente Position, Status und Aktion. Die Position beinhaltet, ob eine Person den Schock anordnet, verabreicht oder empfängt. Der Status bezieht sich darauf, ob eine Person als Autorität oder als gewöhnlicher Mensch präsentiert wird. Die Aktion bezieht sich besonders darauf, ob die Person die Verabreichung von Schocks befürwortet oder sich ihr widersetzt. In einem Versuch bat der Schüler um Fortführung der Schocks (0%), in einem anderen spielte der Vl das Opfer (0%). Sobald der Vl die Beendigung forderte, hörten ausnahmslos alle Vpn auf. Beim Auftreten von zwei widersprüchlichen Autoritäten, verweigerten die Vpn dem Vl den Gehorsam, der eine Weiterführung forderte (0%). Aus den zuletzt geschilderten Versuchen geht eindeutig hervor, dass der Status der Autorität selbst den Gehorsam bewirkt, unabhängig von den Inhalten der Befehle oder der Position der Autorität.

Schließlich gab es noch zwei Experimente, die sich mit der Auswirkung von Gruppen befassen. Wurde der Ungehorsam von anderen „Versuchsteilnehmern“ vorgespielt, fiel es den Vpn wesentlich leichter, selbst auch den Gehorsam zu verweigern. Keine Variation beschnitt die Macht der Autorität wirksamer: nur noch 10% waren dazu bereit, die höchste Schockstufe zu geben. Doch ebenso leicht ist es auch, Mitläufer bei „negativen“ Aktionen zu sein. Im entsprechenden Versuch war die Vp nur „Handlanger“, sie las z.B. nur Begriffe vor, bestrafte aber nicht selbst (92,5%).

Frauen im Milgram-Experiment
In einem einzigen Experiment wurden Frauen als Vpn einbezogen. Das Verhalten der Frauen ist besonders interessant hinsichtlich zweier Tendenzen, die in komplexen Studien auf dem Gebiet der Sozialpsychologie dokumentiert sind. Erstens haben Nachgiebigkeitstests erwiesen, dass Frauen stärker nachgiebig sind als Männer (WEISS, 1969). Daraus folgt, dass man bei den Experimenten mit einer erhöhten Gehorsamsbereitschaft rechnen müsste. Andererseits hält man Frauen aber für einfühlsamer und weniger aggressiv als Männer, so dass ihre Abneigung und somit der Widerstand gegen das Verabreichen von Schocks höher sein müsste.
Die Gehorsamsbereitschaft der Frauen war fast identisch mit der der Männer. 65% waren gehorsam. Dennoch waren die erlebten Konflikte der Frauen stärker als die der Männer, wie sich in den nachfolgenden Gesprächen zeigte.

Milgram hätte es ebenfalls interessant gefunden, Frauen in der Rollenfunktion als Opfer oder auch Vl einzusetzen. Als Opfer hätten sie seiner Vermutung nach zu einer höheren Gehorsamsverweigerung auf Seiten der männlichen Vpn geführt.

Replikation des Experiments in Deutschland
Für die Wiederholung des Experiments in München (1970) wurden 101 Vpn (19 – 49 Jahre) in Privatunternehmen und Regierungsstellen gewonnen. Es wurde im Zentrum in einem Gebäude als Sitz des „Max-Planck-Institut: Forschungsstelle für Lernverhalten“ in drei Variationen durchgeführt. Im Grundaufbau (Film – ABRAHAM – Ein Versuch) waren 85% gehorsam. Bei der fingierten Entlarvung des Vl als gewöhnlichem Studenten blieben 52% gehorsam und bei Selbstentscheidungsbedingungen (ob, und wie weit) immerhin noch 7%.

Milgrams Erklärungsansatz – Kybernetisches Modell und Agens-Zustand
Evolutionärer Ansatz
Milgram versucht, die Gehorsamsbereitschaft der Vpn evolutionär zu erklären. Die kybernetische Theorie geht davon aus, dass menschliche Individuen nach und nach verbesserte Überlebensstrukturen entwickelt haben, indem sie einerseits Mechanismen entwickelten, die sie davon abhalten, sich gegenseitig als „Nahrung“ anzusehen und umzubringen. Darüber hinaus schlossen sich die Individuen in Verbindungen zusammen und lernten so, gemeinsame Interessen besser durchsetzen zu können. Das System funktioniert nur, wenn der Einzelne seine eigenen Herrschaftsinteressen zugunsten eines übergeordneten Systems unterdrückt. Wenn ein Individuum sich in diesem Zustand befindet, ist es bereit, Autoritäten zu gehorchen. Der Zustand wird als „Agens-Zustand“ bezeichnet.

Voraussetzungen für den Agens-Zustand

Die Voraussetzungen für den Agens-Zustand werden uns laut Milgram schon anerzogen. Der Mensch lernt früh, dass er für Gehorsam belohnt, für Ungehorsam bestraft wird. Er lernt zu erkennen, in welchen Situationen man auf Autoritäten hört und woran man die Autoritäten erkennt. Im Fall des Experiments stellt der Vl im Kittel in seinem Labor eine Autorität dar, die die Wissenschaft vertritt (legitime Autorität). Er ist befugt, das Experiment betreffende Befehle zu erteilen. Die Vp ist Teil des Systems, da sie sich zu dem Experiment bereit erklärt hat und der Wissenschaft dienen möchte (Anerkennung des ideologischen Rahmens). Die Macht wird dem Vl zu einem großen Teil von der Vp gegeben. Sobald eine Zustimmung zur Autorität da ist, kann sie nur schwer wieder entzogen werden.

Folgen

Die Person fühlt sich nicht mehr verantwortlich für die Auswirkungen ihrer Taten, sondern nur dem Vl gegenüber. Der Ursprung der Handlungen wird im Vl gesehen, nicht in der Person selber.

Bindungsfaktoren
Was hält so viele Vpn im Agens-Zustand, obwohl die Handlungen, die die Autorität anordnet, unmoralisch sind? Wieso machten die Personen entgegen ihrer Überzeugung weiter?

  • Konsequenter Charakter des Handlungsablaufs: Durch den schleichenden Anstieg der Schockhöhen rutscht die Vp in den Handlungsablauf hinein. Am Anfang besteht noch wenig Grund zum Ungehorsam, doch später müsste die Vp sich eingestehen, dass sie bisher falsch gehandelt hat. Das Fortführen des Experiments rechtfertigt die vorigen Handlungen.
  • Situationsbedingte Verpflichtungen: Ein Abbruch des Experiments stellt in den Augen der Vp auch zugleich einen „Vertragsbruch“ dar, da sie zu Beginn darin eingewilligt hat, an dem Experiment teilzunehmen. Außerdem untersteht die Vp einer gewissen Etikette und hält es für sozial unerwünscht und unhöflich, respektlos das Selbstbild des Vls in Frage zu stellen.
  • Angstzustände: Wenn eine Vp darüber nachdenkt, das Experiment abzubrechen und der Autorität den Gehorsam zu verweigern (dass sie das tut, sieht man an vielen Spannungsmerkmalen wie Zittern), überkommt sie Angst vor den Folgen, vor der Bestrafung dieses sozialen Regelverstoßes.

Entstehung von Ungehorsam
Die Vpn stehen unter großer Spannung, die durch verschiedene Ursachen (z.B. das Zufügen von Schmerzen, die Schreie des Opfers, Angst vor Rache etc.) hervorgerufen werden. Die Spannungen werden durch größere Entfernung zwischen Vp und Opfer gemindert. Darüber hinaus haben die Vpn unterschiedliche Mechanismen, Spannungen abzubauen:

  • Abwenden vom Opfer und Konzentration auf die Aufgabe.
  • Physische Reaktionen wie Zittern, nervöses Lachen oder Schwitzen.
  • Leugnung der Tatsache, dass dem Schüler wirklich Schocks verabreicht werden.
  • Leugnung der eigenen Verantwortlichkeit und Übertragung dieser auf den Vl oder das Opfer (es hat sich ja freiwillig gemeldet).
  • „Minimalgehorsam“: Überdeutliches Sprechen bei der richtigen Antwort, nur kurzes Antippen der Schocktasten.
  • Diskussion mit dem Vl und dadurch Äußern des Unbehagens.

Das maximale Mittel, um Spannungen abzubauen, ist der Ungehorsam. D.h., dass die oben genannten Möglichkeiten eigentlich dem Ungehorsam entgegenwirken, da sie die Spannung abbauen. Ist die erlebte Spannung aber so groß, dass diese Verhaltensweisen nicht ausreichen, tritt der Ungehorsam ein.

Abschließende Betrachtung, Kritik und Anmerkungen

Was auch immer an Milgrams Experiment zu kritisieren ist, es zeigt auf jeden Fall die Bedingungen von Gehorsamsbereitschaft gegenüber einer Autorität und ist in der psychologischen Forschung ein Vorbild an methodischer Sorgfalt.

Die Problematik des Gehorsams gegenüber Autoritäten besteht in jeder Gesellschaft. Bisher funktioniert keine Gesellschaft ohne Hierarchien. Diese sind sinnvoll, wenn sie Überlebensvorteile bringen. Für ein Individuum ist es jedoch schwierig, sich als autonom handelndes Wesen zu begreifen, hat es sich erst einmal in eine Hierarchie eingegliedert.

Die Gefahr, unmenschliche Anweisungen zu befolgen, ist in einer fortgeschrittenen Bürokratie deshalb größer, weil das Individuum i.d.R. von den Konsequenzen seiner Handlungen getrennt ist. So ist es z.B. recht einfach, bei der Bearbeitung von Akten die Folgen für andere zu verdrängen. (Beispiel: A. Eichmann, den Milgram mehrmals in seinem Buch erwähnte. {„Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive. … Er hatte sich nur … niemals vorgestellt, was er eigentlich anstellte.“ (aus H. Arendt 1964 Eichmann in Jerusalem – Von der Banalität des Bösen S.16)}

Umfragen nach dem Motto „Wie weit würden Sie in einer Milgram-Situation gehen?“ ergeben völlig konträre Werte. Kaum jemand glaubt, dass er sich in einer solchen Situation der Autorität beugen würde. Prognosen, die 40 Psychiater vorab über den Ausgang dieses Experiments abgaben, erwiesen sich ebenfalls als großer Irrtum. Sie waren der Meinung, dass die Mehrheit nicht über 150 V gehen würde und weniger als 4% bei 300 V noch gehorchen würden. Nur etwa 0,1% sollten wirklich bis 450 V gehen. Auch diese Experten überschätzten offensichtlich die Rolle der Persönlichkeit ganz erheblich, während sie die Macht der Situation unterschätzten. [Ein fundamentaler Attributionsfehler! Sie glaubten, dass Handlungen eines Menschen aus ihm selbst entspringen und keine anderen Ursachen haben, als die Entscheidung, etwas zu tun oder zu lassen. Das Verhalten im Experiment wurde vorhergesagt, ohne die Situation zu bedenken, in der sich diese Menschen befinden, und die größeren Einfluss hatte als die Überzeugungen der Vpn.
(vgl. W. Stroebe, M. Hewstone, G.M. Stephenson Hrsg. 1996 Sozialpsychologie S. 541 und Kap.7)
]

Nach den Versuchen waren die Vpn ausnahmslos sehr erregt und manche geradezu gebrochene Menschen. Sie waren sich also offensichtlich bewusst, was sie getan hatten, und verweigerten trotzdem nicht den Gehorsam.

Auch wenn das Milgram-Experiment heute noch zu ähnlichen Ergebnissen führen würde, kann man davon ausgehen, dass sie etwas weniger krass wären. Die Vpn der 60er Jahre sind allgemein wesentlich strenger und autoritärer erzogen worden als die nachfolgenden Generationen. Erst die „68-er“ zeigten hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber Autoritäten einen deutlichen Bruch.

Allgemeine Kritik

Eine bedeutende Frage ist, ob die Beobachtungen im Labor tatsächlich auf die Wirklichkeit außerhalb des Labors übertragbar sind, und ob die Beobachtungen im Experiment auch tatsächlich das widerspiegeln, was man glaubt zu beobachten. Kritiker machen auf Punkte aufmerksam, die sich vor allem auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse beziehen. Man kann behaupten, dass die im Labor untersuchten Personen nicht repräsentativ für die Bevölkerung waren. Die Experimente wurden aber auch in anderen Ländern wiederholt, wo die Ergebnisse stets etwas höher ausfielen als in den USA, was auch darauf zurückzuführen ist, dass beispielsweise in München (85%) weniger strenge Anforderungen an die Methodik gestellt wurden und die Vpn unter erheblich höherem Druck seitens des Vl standen.

  • Alle Teilnehmer waren Freiwillige. D.h., dass sie sich von der übrigen Bevölkerung unterschieden, da sie i.d.R. ein überdurchschnittliches Interesse an wissenschaftlichen, insbesondere psychologischen Untersuchungen hatten. Dies legt die Annahme nahe, dass diese Personen auch überdurchschnittlich wissenschaftsgläubig waren. [„Der Psychologe war nicht nur eine Autorität, der man Gehorsam schuldig ist, sondern ein Vertreter der Wissenschaft und repräsentierte eines der angesehensten Institute des höheren Bildungswesens in den Vereinigten Staaten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Wissenschaft in der heutigen Industriegesellschaft weitgehend als der höchste Wert angesehen wird, ist es für den Durchschnittsbürger schwer zu glauben, dass das, was die Wissenschaft befiehlt, falsch oder unmoralisch sein könnte.“ (E. Fromm 1977 Anatomie der menschlichen Destruktivität S.70/71)]
  • Die Vpn wurden bezahlt. Dass einige versuchten, sich durch die Rückgabe des Geldes „aus der Affäre zu ziehen“, macht klar, dass die Bezahlung einen weiteren Bindungsfaktor darstellte, der in der Analyse der Ergebnisse vernachlässigt wurde. Immerhin gaben fast 9% der Vpn an, der Hauptgrund für die Teilnahme sei die Bezahlung gewesen.
  • Außerdem ist die Situation des Experiments noch dadurch von realen Situationen verschieden, dass sie sich in einem begrenzten zeitlichen Rahmen abspielt. Der Zeitraum des einzelnen Experiments erstreckte sich etwa über eine Stunde (in eine vergleichbare gesellschaftliche Situation ist man meist für einen längeren Zeitraum involviert), was bedeuten könnte, dass einige Vpn die beste Möglichkeit, sich dieser extremen Anspannung zu entziehen, darin sahen, das Experiment möglichst schnell zu Ende zu bringen und nicht den Gehorsam zu verweigern.

Eine andere Frage ist, ob das, was hier beobachtet wurde, auch tatsächlich der Gehorsam ist. Stuwe und Timaeus gehen davon aus, dass die Begriffe „Experiment“ oder „psychologische Untersuchung“, mit denen die Vpn geworben wurden, die Situation, in der sich die Beteiligten dann im Labor befinden, bereits so definieren, dass jemand Anweisungen befolgt, die ein anderer gibt. Außerdem wird attribuiert, dass grundsätzlich ein sinnvolles Experiment durchgeführt wird. Die Vp stellt sich allein durch die Teilnahme am Experiment unter die Befehlsgewalt des Vl. Auch in der Gesellschaft wird angestrebt, dass Menschen sich freiwillig einer Autorität unterordnen, da dies eine wesentlich höhere Gehorsamsbereitschaft erzeugt, als bei erzwungenen Situationen. Diese Überlegungen bestätigen noch einmal, dass Milgrams Untersuchungen sich ausschließlich auf Fälle von freiwilligem Eintritt in eine Hierarchie beziehen.

Persönliche Kritikpunkte und Anmerkungen
Die Vpn reagierten m.E. im Experiment auf die inszenierte Wirklichkeit als Ganzes, also nicht nur auf Elemente, durch die der Vl Verhalten intendierte, in diesem Fall das Auslösen von Ungehorsam. Dass der Schüler beispielsweise wiederholt nach Protest und Wehklagen mit der Beantwortung fortfuhr, könnte von der Vp vielleicht unbewusst auch als unausgesprochenes Einverständnis für den Fortgang des Experiments gedeutet werden.

Die Aufmerksamkeit der Vpn war vom einzuhaltenden Ablauf sicher stark absorbiert, sodass viele vielleicht kaum in der Lage waren, das in einigen Fällen eigentlich unlogische Verstummen und erneute Fortfahren des Schülers zu realisieren bzw. zu interpretieren. Der zuvor für viele fast zwingende Handlungsbedarf, löst sich nach Beruhigung des Schülers und der Aufforderung des Vl zum Weitermachen wahrscheinlich bei einem hohen Prozentsatz einfach auf. Ich bin mir sicher, dass anhaltender Protest seitens des Schülers bzw. seitens eines echten Schülers zu mehr Abbrüchen geführt hätte. [„Gerade die Tatsache, dass viele dieser Experimente, um überhaupt durchführbar zu sein, mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen arbeiten müssen, beweist ihre besondere Unwirklichkeit; das Gefühl der Teilnehmer für die Wirklichkeit wird in Verwirrung gebracht, und ihr kritisches Urteilsvermögen wird stark reduziert.“(s.o.S 86)]

Die Vpn, die den Gehorsam verweigert haben, sind nicht unbedingt die „besseren Menschen“. Vielleicht stand bei manchen gar nicht so sehr das Wohl des Schülers im Vordergrund, sondern die Möglichkeit durch Ungehorsam die enorme innere Anspannung zu reduzieren. Die Dokumentation der Abbruchversuche bei den Gehorsamen wäre da u.U. interessant gewesen.

Kann uns vielleicht das Milgram-Experiment noch am ehesten das Unfassbare des Verwaltungsmassenmords im Dritten Reich erklären, nicht nur hinsichtlich der sozialpsychologischen Erkenntnisse, sondern vielleicht auch gerade dadurch, dass es sich, wie beim Experiment, um eine in gewissem Maße inszenierte Wirklichkeit handelte?

Die Ergebnisse sind, wenn auch im Detail nicht ganz hieb- und stichfest, von ihrer Grundaussage her nicht zu leugnen. Ist prinzipiell also fast jeder Mensch unter gewissen Umständen zu Taten bereit, die er sich vorher überhaupt nicht vorstellen konnte? Das Ergebnis dieser Untersuchung scheint zu zeigen, wie unmöglich es sein kann, sich selbst richtig einzuschätzen und sein Verhalten für Extremsituationen vorauszusagen, auch wenn der subjektive Eindruck, es sei möglich, sehr stark ist. Heute würde es allerdings aus ethischen Gründen keine Wiederholung solcher Experimente mehr geben.

Was uns dieses Experiment vielleicht lehren kann, ist eine gewisse Skepsis gegenüber Anweisungen, Übereinkünften, Regeln und Erwartungen. (Natürlich nicht Respektlosigkeit und generelle Verweigerung von Gehorsam!)

http://video.google.com/googleplayer.swf?docid=6725871964516323603&hl=de&fs=true

Leider ist im Netz kein Video der deutschen Replikation (München) zu finden. Ich habe mir aber mal die Mühe gemacht und fast alle Statements der Vpn aus dem Leihfilm herausgeschrieben, zumindest die, die ich verstanden habe:

Statements aus „Abraham – Ein Versuch“

„Wenn man so dort sitzt, da kommt einem Verschiedenes durch den Kopf. Ich hab‘ eigentlich gar nicht gedacht, dass ich so sein kann.“

„ ….. ??? “

„Ich wollte ausschließlich die Anordnungen ausführen, die man mir gegeben hat.“

„Ich hab’ mir halt gedacht: Je schneller, desto besser!“

„Das hat man ja gesehen – unter dem Hitler – wie weit das geführt hat, diese treue Pflichterfüllung.“

„Man kann daraus sehen, wie weit Menschen um einer Sache willen einen anderen Menschen quälen.“

„Die Schmerzen von 30 oder 40 Testanten sind in Kauf zu nehmen, wenn man bedenkt, dass vielleicht von dem Test also doch sehr wertvolle Erfahrungen gewonnen werden können.“

„Ich war halt nur von dem Gedanken so besessen, ich muss das Ganze jetzt durchführen, und ich war fassungslos, wie gesagt.“

„Es könnte ja sein, dass er vor lauter Angst keine Antwort mehr gewusst hat.“

„Er war durch den Schock auch nicht mehr in der Lage zu schreien.“

„Ich hab‘ so das Gefühl gehabt, er wurde ohnmächtig.“

„Wenn man dann so weit ist, dann sollte man den Weg zuende gehen.“

„Die größte Nervosität für mich war einzig und allein zwischen 180 und 240 vielleicht. Nachher wurde mein Gefühl wieder kalt.“

„Wenn ich mir vorstelle, dass bei 290 Volt der dann so schreien tut, dass man das dort drüben in dem Zimmer hört, dann kann ich mir vorstellen, dass bei 450 schon alles aus ist.“

„…und hab‘ nicht genau hingeschaut, was da überhaupt unten drunter steht.“

„Dasselbe hätte auch mich treffen können.“

„Das war ja dieser Schock für mich, dass man mich hochgenommen hat, während ich dachte, man hat einen anderen hochgenommen.“

„Der junge Mann, der auf dem Stuhl gesessen ist, hätte wahrscheinlich dasselbe mit mir gemacht.“

„Ich wäre doch, im Grunde genommen, um das ganz krass auszusagen, in der Lage gewesen, einen Menschen zu ermorden, als willenloses Werkzeug.“

„Ich bin ein Befehlsempfänger.“

„Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf…- Wie in der Hitlerzeit! … im KZ… Ich bin mir vorgekommen, als ob ich im Glashaus sitzen würde, und unten im KZ laufen Leute herum und die knall‘ ich ab…“

„Ich habe die Verantwortung auf andere geschoben – sozusagen.“

„… und jetzt sind wir wieder genau an dem Standpunkt, entschuldigen Sie bitte, was man mir schon seit 45 eintrichtert: Dass der kleine Mann schuld ist. Und es kann leicht in irgendeine Misere hineinrutschen, wo man drin ist und nicht wieder rauskommt.“

„Wenn man sich überlegt, wie Menschen leicht zu beeinflussen sind…“

„Ich hab‘ schon gewisse Gewissensbisse.“

„Nun, gezwungen wurde ich auf keinen Fall, das ist mal klar!“

„Also das ist schon bald eine Pflichterfüllung, glaub‘ ich. Ich weiß nicht, ich bin jetzt schon seit dem Jahr 55 Beamter, und da glaub‘ ich, da wird man so: Wenn man was anfängt, dann wird das beendet.“

„Da sieht man, dass der Mensch eine Marionette ist. – Nicht alle!“

„Ich muss mich ja drauf verlassen können, gell, wenn jetzt da irgend sowas gemacht wird, dass da tatsächlich nichts passiert.“

„ ……??? “

„Man macht die Sache weiter!“

„Ich kann es mir einfach in unserer Gesellschaft nicht vorstellen, dass so etwas möglich ist.“

„Und es wird ja auch jeder dazu gebracht, denk‘ ich: auf den Knopf drücken und die Bombe abwerfen.“

„Freilich, da müßte man sich auflehnen und sagen: Das mach‘ ich nicht mehr mit!“

„Es ist immerhin, das muss ich sagen, ein Versuch einer Entdeckung der menschlichen Persönlichkeit.“

Literatur und andere Medien

Milgram, S. (1974). Das Milgram-Experiment. Rowohlt
Arendt, H. (1986). Eichmann in Jerusalem – Von der Banalität des Bösen. Piper
Fromm, E. (1977) Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt
Stroebe, W.; Hewstone, M.; Stephenson, G.M. (1996) Sozialpsychologie. Springer
Geißlinger, H. (1992) Imagination der Wirklichkeit. Campus
Schuchardt, J. (1995) Gehorsam und Verweigerung. MATTHIAS-FILM GmbH
Deutsche Gesellschaft für Psychologie e.V., (1998) Ethische Richtlinien. www.dgps.de
amnesty international; Keller, G. (1981) Die Psychologie der Folterer. Fischer
Mantell, D.M. (1971). Der Nervenarzt – Das Potential zur Gewalt in Deutschland.
Lahr, M. (WS 97/98). Referat zum Milgram-Experiment. Hausarbeiten.de GbR.
Bungard, W. (1980). Die „gute“ Versuchsperson denkt nicht. Urban & Schwarzenberg
Bay, R.H. (1981). Zur Psychologie der Versuchsperson. Böhlau
„Damokles“ (1/94) Autorität und Gehorsam – das Milgram-Experiment. NGFG
Zimmer, D.E. (1981 Nr. 33) Das Unbehagen an der Autorität. DIE ZEIT

AV-Medien:
Film (1970) – ABRAHAM – Ein VERSUCH von Hans Lechleitner
Dokumentarfilm (1994) – Gehorsam und Verweigerung von Egon Humer

Risikokinder und Resilienz

Was ist Resilienz?
Weil lebende Systeme innere und äußere Gegebenheiten niemals vollständig beherrschen können, müssen sie in der Lage sein, Abweichungen auszugleichen. Etwas technischer ausgedrückt müssen sie fehlertolerant, fehlerfreundlich, d.h. resilient sein.

Ein anschauliches Beispiel für Resilienz ist die Fähigkeit des Stehaufmännchens seine aufrechte Haltung aus jeder beliebigen Lage wieder einzunehmen.

In der Psychologie wird mit Resilienz die Stärke von Menschen – vorzugsweise von Kindern – bezeichnet, die sich trotz hoher psychosozialer und oftmals auch physischer Belastungen zu „gesunden“ Persönlichkeiten entwickeln, bzw. in manchen Fällen sogar ganz besonders gelungene Entwicklungen aufweisen.

Die unbesiegbaren „Superkids“

Solche erfolgreichen „Superkids“, wie Kauffman sie 1979 nannte, wurden in einer Reihe von Veröffentlichungen in den späten 70er und frühen 80er Jahren überwiegend in Nordamerika und Großbritannien nahezu als Wunder beschrieben. Werner und Smith, die sich in einer Längsschnittstudie mit erfolgreichen Risikokindern auf Kauai beschäftigten, beschrieben sie 1982 als verletzlich aber unbesiegbar.

Um welche Risikofaktoren geht es überhaupt?
Ich will an dieser Stelle psychosoziale Risiken hervorheben. (Selbstverständlich schließt das Konzept physiologische Risiken wie schwere Krankheiten, körperliche und geistige Behinderungen mit ein.) Hauptrisiken für die kindliche Entwicklung sind zum Beispiel:
– Armut
– lange Arbeitslosigkeit
– chronische Disharmonie in der Familie
– eine große Familie und sehr wenig Wohnraum
– Migrationshintergrund
– niedriges Bildungsniveau der Eltern
– Kriminalität eines Elternteils
– seelische und körperliche Misshandlungen
– minderjährige Mütter/Eltern
– Abwesenheit bzw. Verlust der Eltern oder eines Elternteils
– Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit der Eltern
– und psychische Störungen, vor allem der Mutter

Entscheidend sind dabei die Wechselwirkung und die kumulative Wirkung verschiedener Stressoren. Ein Risikofaktor allein erhöht nicht unbedingt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Entwicklungsstörungen, während mehrere Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit um ein vielfaches erhöhen können.

Eine bekannte Beispielstudie: Die Kinder von Kauai

Auf Kauai, einer Insel des Hawaii-Archipels untersuchten Werner und Smith zwischen 1955 und 1995 fast 700 Kinder.

Eine Vielzahl dieser Kinder (30%) war über 2 Jahre mehreren solcher Risikofaktoren ausgesetzt.

Der Vergleich zwischen den Kindern, die sich trotz dieser Risiken „normal“ entwickelten (ein Drittel), und den Kindern, bei denen es Auffälligkeiten gab (überwiegend psychisch auffällig), zeigte, dass es offensichtlich Schutzfaktoren gab:
äußere Schutzfaktoren – zum Beispiel wenigstens eine Bezugsperson – und innere Schutzfaktoren durch Kompetenzen, über die das Kind selbst verfügt.

Schutzfaktoren über die das Kind selbst verfügt
– Erstgeborenes Kind
– Weibliches Geschlecht (in der Kindheit)
– Mindesten durchschnittliche Intelligenz
– Positives Temperament (flexibel, aktiv, offen)
– Positives Sozialverhalten und soziale Attraktivität
– Positives Selbstwertgefühl,
– Gefühl von Selbstwirksamkeit,
– aktive Stressbewältigung

Schutzfaktoren in der Familie

– stabile emotionale Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson
– positives, unterstützendes Erziehungsklima
– familiärer Zusammenhalt, gemeinsame Aktivitäten und Regeln
– Modelle positiver Bewältigung
– Religiöse Praxis

Schutzfaktoren im weiteren sozialen Umfeld

– Freundschaftsbeziehungen
– positive erwachsene Modelle (Lehrer, Pfarrer, Nachbarn usw.) – Hervorhebung für meine liebe Blognachbarin –
– soziale Unterstützung
– positive Schulerfahrungen

Auf die Rolle der Schule möchte ich kurz näher eingehen, denn resiliente Kinder nennen Lehrer sehr häufig als außerfamiliäre Vertrauensperson. Diese Bedeutung ist den Lehrern aber oft nicht so bewusst.

Neben der Funktion des Lehrers als positives Modell und als wichtige Bezugsperson ist Bildung eine wichtige Schlüsselressource für die individuelle und soziale Entwicklung.

Bildungschancen und sozioökonomischer Status
Der Zusammenhang zwischen Bildungschancen und sozioökonomischem Status ist in Deutschland sehr eng. Jedes fünfte Kind ist funktionaler Analphabet und jedes zehnte Kind verlässt ohne Abschluss die Schule.

Gerade Kinder aus benachteiligten Familien stehen oft schon zu Beginn ihres Lebens im Abseits. (Arme Kinder bleiben arm.) Investitionen in die frühe Förderung können daher lohnend sein, denn sie ersparen der Gesellschaft Folgekosten und erhöhen zudem die Chance, dass aus Sozialhilfeempfängern Beitragszahler werden.
In sozialen Brennpunkten müssen Hilfen allerdings niedrigschwellig sein, denn trotz Unterstützungsbedarf nehmen gerade bedürftige Familien kaum an speziellen Programmen teil.

In den Niederlanden wurden beispielsweise mit den Vensterschools und dem OPSTAPJE-Programm niedrigschwellige Angebote geschaffen.

Das Modell der „Vensterschools“ aus den Niederlanden

Die ersten Vensterschools (übersetzt Fensterschule im Sinne von offener Schule) wurden vor 12 Jahren in Groningen ins Leben gerufen.

Dabei handelt es sich um stadtteilbezogene zentrale Einrichtungen, die verschiedene Schulen und Angebote weiterer Einrichtungen (z.B. Jugendhilfe) bündeln – mit dem Ergebnis eines großen Angebots an
– Bildung,
– Erziehung,
– Gesundheitsförderung,
– Sozialberatung,
– Bibliotheken,
– Sport,
– Spiel,
– Musik, usw.
und einer Infrastruktur der kurzen Wege. Kooperation führt zu immer neuen Aktivitäten und jede Vensterschool ist einzigartig.

Eine Vensterschool bündelt das alles unter einem Dach (oder einem Campus) und versteht sich als lebendiges pulsierendes Herz eines Wohngebiets, denn das reichhaltige und abwechslungsreiche Angebot richtet sich neben den Kindern auch an die Eltern und andere Bewohner.
Das nachfolgend beschriebene Programm kann ebenso unter ihrer Schirmherrschaft stehen.

Um aber zu verhindern, dass das Konzept der Vensterschools als Modell für unterprivilegierte Stadtteile stigmatisiert wird, wurden gezielt Entwicklungen in privilegierten Stadtteilen vorangetrieben.

OPSTAPJE – Ein Programm zur Stärkung von sozial benachteiligten Familien mit Kleinkindern

Als Schutzfaktoren haben sich, insbesondere bei Armut, ein positives Familienklima mit häufigen gemeinsamen Aktivitäten und ein gutes soziales Netzwerk erwiesen. Hier setzt die Arbeit mit Opstapje an: Eltern werden dazu angeregt, sich häufiger mit ihren Kindern zu beschäftigen, lernen deren altersgemäße Bedürfnisse besser kennen, werden für die Signale ihrer Kinder sensibilisiert und erweitern ihr Repertoire an positiven Interaktionsmöglichkeiten.

Die Spiel-Aktivitäten von Opstapje sind so aufgebaut, dass alle wichtigen Entwicklungsbereiche der Kinder (Motorik/Feinmotorik, Kognition/Sprachentwicklung, Sozialverhalten) angesprochen und stimuliert werden.

Die Eltern werden hierbei angehalten, die Autonomie und das Selbstwirksamkeitserleben ihrer Kinder beim Lösen von Aufgaben zu unterstützen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Aufbau von sozialen Netzwerken mit den anderen teilnehmenden Familien und das Erkunden von weiteren (Unterstützungs-)Angeboten für Eltern und Kinder im Stadtviertel.

Opstapje setzt also an allen drei Ebenen an, die Resilienz fördern zu können: am Kind selbst, an den familiären Beziehungen und am sozialen Kontext.

Niedrigschwellig ist das Programm durch seine aufsuchende Struktur. Sozial kompetente und extra geschulte Hausbesucherinnen, die ebenfalls Mütter (Modelle) sind und aus dem soziokulturellen Umfeld der Zielgruppe stammen, besuchen die Familien in einem Zeitraum von 2×30 Wochen im wöchentlichen später 14-tägigen Abstand für 30-45 Minuten. Daneben finden alle 14 Tage Gruppentreffen statt.

Literatur zum Thema

Neosexualitäten*

Sexualität ist ein Bereich unseres Lebens, der erst seit etwa zweihundert Jahren so genannt wird. Er unterliegt einer ständigen gesellschaftlichen und kulturellen Umgestaltung und es wird seither von Wissenschaftlern gefragt, was an unserer Sexualität natürlich und ursprünglich und was unnatürlich und konstruiert sei. Wissenschaftler untersuchen auch, was von den Menschen im Laufe der Zeit mit anderen Bedeutungen und Bewertungen versehen wurde. So löste KINSEY beispielsweise 1953, also noch vor der sexuellen Revolution, mit seinem Bericht über weit verbreitete Sexualpraktiken Schockwellen der Empörung aus.

Die neosexuelle Revolution

Veränderungen betreffen aber nicht nur die sexuelle Sphäre. „Wir essen, sehen, hören, wohnen, arbeiten, lieben, leiden und sterben heute anders.“ (SIGUSCH, 2005, S.27) Aber unverändert geht es in unserer westlichen Kultur vorrangig um die materielle Befriedigung von „Gier und Neugier“, die jederzeit neu entfacht werden können. (S.28) Von Love Parades und Raver Partys, Telefon- und Cybersex, über Potenzsteigerung mit Viagra und Penisprothesen, bis hin zur Transsexualität gibt es heute eine Fülle neuer Lebensweisen und sexueller Praktiken. Der kritische Sexualforscher VOLKMAR SIGUSCH nennt sie Neosexualitäten und die eher langsam und leise verlaufende, aber trotzdem enorme Umgestaltung der Sexualität die „neosexuelle Revolution“. In der Vorsilbe ‚neo’ soll gleichzeitig das Rückwärtsgewandte dieses Prozesses anklingen. Neue Freiräume installieren seiner Ansicht nach zugleich neue Zwänge. Die Auswirkungen dieser Revolution sind möglicherweise einschneidender als die der lauten sexuellen Revolution der 68er. (S.7)

Neue Freiräume, neue Fragmente, neue Formen

Die entstandenen sexuellen Freiräume waren noch nie so groß und vielgestaltig wie heute. Aber zugleich ist unser Sexualleben bei aller „Buntscheckigkeit“, die uns in den Medien präsentiert wird, entmystifiziert und geradezu banalisiert worden, und ein Ende der Kommerzialisierung ist nicht in Sicht. SIGUSCH trennt diese Entwicklung nicht von der ökonomischen Situation der reichen westlichen Gesellschaften und sieht die Sexualität genauso den Mechanismen des Kapitalismus unterworfen. Die scheinbare Einheit Sexualität wird zerlegt und neu zusammengesetzt; und neue Bedürfnisse werden wieder vermarktet.

Es treten Dimensionen, Intimbeziehungen, Präferenzen und Fragmente hervor, die bisher keinen Namen hatten oder gar nicht existierten. So entstehen „neue Sexual-, Intim- und Geschlechtsformen, die sich den alten Ängsten, Vorurteilen und Theorien entziehen.“ (S.7) Davon profitieren vor allem Personen, die noch vor nicht allzu langer Zeit als „abnorm, krank, pervers und moralisch verkommen“ angesehen wurden. Heute ist der Transsexualismus ein anerkanntes Neogeschlecht; Fetischismus und Sadomasochismus gelten nicht mehr grundsätzlich als krank; Homosexuelle können heiraten und Heterosexuelle unterschiedlichste Beziehungsformen wählen, ohne damit aus dem Rahmen zu fallen. Sogar der an sexuellen Lüsten Desinteressierte kann sich heute als asexuell ‚outen’, was allerdings noch nicht sehr verbreitet ist, denn gerade Frauen sind nach ihrer Resexualisierung gewissermaßen „orgasmuspflichtig“. (S.28) Aber gerade das allgegenwärtige mediale Diktat zur sexuellen Lust und dem Orgasmus als Nachweis könnte zu diesem neuen Trend der Totalverweigerung führen.

Auch viele Beziehungen sind geprägt von sexueller Langeweile. Die Diskrepanz zwischen einer übersexualisierten äußeren Welt und einer eher kargen sexuellen Praxis der Menschen wird augenfällig. (SCHMIDT, 1998, S.23) In Zukunft, so prognostiziert SCHMIDT 1998, wird Sexualität in den uns bisher vertrauten Erscheinungsformen noch mehr an Bedeutung verlieren. Praktiziert wird Techno-Sex, Designer-Sex, Lean-Sex, Telefon-Sex. Menschen outen sich als ambi-, multi-, poly- und nonsexuell. Das Primat der Heterosexualität verschwindet, und die Monosexualität wird durch eine Vielzahl sexueller Orientierungen ersetzt. Alles scheint möglich, wenn zwei Menschen sich darauf einigen können, denn Sexualität unterliegt inzwischen, so seine These, einer Verhandlungsmoral. (S.11)

Die zugrunde liegenden Prozesse

Sexualität ist also nicht mehr „die große Metapher des Rausches, des Höhepunktes, der Revolution, des Fortschritts und des Glücks.“ (SIGUSCH, 2005, S.8) Sie wird nicht mehr so stark überschätzt wie zur Zeit der sexuellen Revolution und ist eher eine allgemeine Selbstverständlichkeit geworden. SIGUSCH und SCHMIDT sind sogar der Auffassung, dass die heutige Sexualität eher negativ mystifiziert ist, „als Ungleichheit der Geschlechter, als Gewalt, Missbrauch und tödliche Infektion.“ (zit. n. SCHMIDT, 1998, S.4) Aus der Unzahl der miteinander vernetzten Prozesse, die Neosexualitäten hervorbringen, greift SIGUSCH drei heraus: die „Dissoziation der sexuellen Sphäre“, die „Dispersion der sexuellen Fragmente“ und die „Diversifikation der sexuellen Beziehungen“.

Gliederung und Zergliederung der sexuellen Sphäre
„Bestand die alte Sexualität vor allem aus Trieb, Orgasmus und dem heterosexuellen Paar, bestehen die Neosexualitäten vor allem aus Geschlechterdifferenz, Selbstliebe, Thrills und Prothetisierungen.“ (S.30)

Die Sexualität entfernt sich immer mehr von ihren sozialen und biologischen Wurzeln. So hat sich im Zeitalter von Empfängnisverhütung, über künstliche Befruchtung bis hin zur Möglichkeit geklonter Embryos die „reproduktive Sphäre“ von der sexuellen getrennt. (ebd.)

Als Folge davon spaltete sich die sexuelle von der „geschlechtlichen Sphäre“. Darunter versteht SIGUSCH vor allem die „diskursive Abtrennung und Überhöhung“ des Geschlechtlichen im Sinne von Gender, also Geschlechterdifferenz, Geschlechtsrollenverhalten, Geschlechtsidentität usw. (zit. n. SCHMIDT, 1998, S.5), welche vorrangig vom „politischen und wissenschaftlichen Feminismus“ angestoßen wurde. (SIGUSCH, 2005, S.135).

Durch eine weitere Spaltung der 80er und 90er Jahre wurde die „Sphäre des sexuellen Erlebens“ insbesondere durch Virtualisierungs- und Stimulierungsprozesse von der „Sphäre der körperlichen Reaktion“ getrennt. Darunter fallen beispielsweise mechanische, chirurgische und medikamentöse Erektionshilfen, die ohne gespürtes Verlangen zur sexuellen Funktion, also zum Vollzug führen. Oder es geschieht wie beim Telefon- und Cybersex gerade anders herum. Diese Trennung wird für SIGUSCH auch in den Love Parades und Raver Partys greifbar, wo sich die „Neosexuellen“ aufwändig zu verführerischen Sexualsubjekten stilisieren, in der Regel jedoch konkrete körperlich-sexuelle Begegnungen vermeiden. (S.37)

Die letzte Dissoziation, die vorrangig vom politischen Feminismus angestoßen wurde, ist die Trennung der „Sphäre der Libido“ von der „Sphäre des Destrudo“. Die destruktive Seite der Sexualität wird heute viel stärker betont als die libidinöse. Wir werden ständig mit sexueller Gewalt konfrontiert, und „der ehemals singulär kranke Triebtäter wurde zum ubiquitär normalen Geschlechtstäter, zum Missbraucher und Vergewaltiger vervielfältigt“, bis Männer „nur noch geil, gewalttätig und impotent“ zu sein schienen. (S.33) Andererseits entstand gleichzeitig eine „totale Zärtlichkeitsideologie, die die dunklen Seiten der Sexualität verleugnet.“ (SCHMIDT, 1988, S.154) Durch diesen Prozess wurde die aggressiv-trennende Seite der Sexualität von der zärtlich-vereinigenden abgelöst, welche sich zunächst gegen Männer, aber heutzutage auch zunehmend gegen Frauen vor allem Mütter richtet, die bisher als Täterinnen tabuisiert und übersehen wurden.

Zerstreuung der alten Einheit Sexualität in sexuelle Fragmente
Vor allem durch den Zerstreuungsprozess mittels Kommerzialisierung und Ausnutzung durch die Medien werden Individuen einerseits entwurzelt und anonymisiert, andererseits aber auch vernetzt und „unterhaltsam verstreut“. (SIGUSCH, 2005. S.33) „Unterm Strich kommt mannigfaltige Atomisierung heraus.“ (zit. n. SCHMIDT, 1998, S.6): „Bruchstücke, die uns heute als diskursive Figuren beschäftigen, sind zum Beispiel: die zuviel oder zuwenig, also immer falsch liebende Mutter“; „der physisch oder psychisch abwesende Vater“; „das sexuell missbrauchte Kind“; „der eiserne, männliche Mann“; „der Sextourist“; „der elektronisch zerstreute Perverse“; „der Single“; „der medizinisch reparierte Impotente“; „der operativ beruhigte Geschlechtszweifler“; „die Fakesexerin“; „der futuristische Cybersexer“, um nur einige zu nennen. (SIGUSCH, 2005, S.34) In den Medien werden diese Fragmente zu unterhaltsamen Waren.

Deregulierung und Vervielfältigung der Intimbeziehungen
SIGUSCH weist auf den in den vergangenen Jahrzehnten angestoßenen emotionalen und sozialen Bedeutungsverlust der Herkunftsfamilie, also der Blutsverwandtschaft hin. Andere Vernetzungen werden immer wichtiger. Die Familie ist drastisch geschrumpft. Wir bewegen uns auf eine Kleinstfamilie zu. Immer mehr Einzelpersonen sind zu ihrer eigenen Familie geworden. Die Triade Vater-Mutter-Kind ist kulturell verblasst. Ehe und Familie sind, wie im nächsten Kapitel erörtert wird, faktisch voneinander getrennt. „Es gibt jetzt Singles und Alleinerziehende, Dauerbeziehungen mit Liebe, aber ohne sexuellen Verkehr, äußerst komplizierte Intimbeziehungen mit drei und mehr Akteuren, Abstinenz und Partnertausch, One-Night-Stands“ usw. (SIGUSCH in DIE ZEIT, 1996) Mit dieser Pluralisierung sind wieder „neue Scham-, Ekel-, Desensibilisierungs- und Zurückweisungsstandards“ entstanden. (S.37) Ein weiterer Aspekt ist die weiter zunehmende Intimisierung von Beziehungen, durch die Einsamkeit vermieden werden soll.

Lean Sexuality und Selfsex – Die neuen „Selbstpraktiken“
Man ist sich jedoch „narzisstisch und egoistisch selbst am nächsten“ (SIGUSCH, 2005, S.37), obwohl oft eine altruistische Gemeinschaft beschworen wird, von der man sich aber zugleich durch Verhalten und Outfit distanziert. Das Resultat der neosexuellen Revolution könnte in Anlehnung an das moderne Wirtschaftsprinzip der optimierten und effizienten Lean Produktion als selbstoptimierte „Lean Sexuality“ oder als „Selfsex“ bezeichnet werden. Bisexuelle, transgenderistische, sadomasochistische oder fetischistische „Selbstpraktiken“ sind typische Neosexualitäten. (S.36), denn das Triebhafte steht dabei nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr sind sie „zugleich sexuell und nonsexuell“, weil Selbstwertgefühl und Befriedigung stärker aus dem Thrill der „nonsexuellen Selbstpreisgabe und der narzisstischen Selbsterfindung“ erwachsen. Zudem oszillieren diese Praktiken viel stärker und sind häufiger vorübergehende Vorlieben oder Vorlieben, die nur am Wochenende ausgelebt werden, während man unter der Woche ganz korrekt funktioniert. (S.37) Hinter der Idealisierung von Lifestyles verbergen sich oft neue Formen des Zwangs, der Kontrolle, der Abhängigkeit und der Einsamkeit. GERHARD SCHULZE (2000) stellt ebenfalls fest: „Was die Gegenwart von den siebziger Jahren unterscheidet, ist eine Kombination von Selbstverständlichkeit und Distanziertheit bis zur Ermüdung. Dort, wo einst kollektive Aufbruchsstimmung, Entdeckerlaune, Erregtheit, Faszination und der Narzissmus des Konventionsbruchs herrschten, handhaben die Menschen Erlebnismittel mit achselzuckender Selbstverständlichkeit. „Ich tue, was mir gefällt“ wurde vom Fanal zur permanent gemurmelten Floskel, ja zur neuen Konvention. (…) Alles Neue ist im Grunde nichts Neues, sondern eingespielte Folklore mit oszillierender Oberfläche.“

Welche Rolle spielt die Liebe innerhalb dieser kulturellen Transformation?
Das Diktat ist Innovation und Wandel und doch, sagt SIGUSCH, klammern wir uns daran, dass es einen wissenschaftlich nicht reduzierbaren „Sexual-Rest“ gibt, „dass die Sexualität ein Rätsel ist, dass die Fetische und Szenen, die uns erregen ein Geheimnis umschließen, dass sie weder produziert werden können noch käuflich sind.“ (2005, S.41) SIGUSCH interpretiert die Liebe als „einzigartige Kostbarkeit“, weil sie eben nicht produziert und nicht gekauft werden kann, und sich im Verhältnis zu den Sexualformen viel langsamer verändert. (ebd.)

*Dieser Beitrag wurde hier schon einmal im Rahmen meiner Diplomarbeit veröffentlicht.

Und passend zum Thema jetzt noch ein wenig Kunst:

Die Singlefrau*

Der französische Soziologe JEAN-CLAUDE KAUFMANN liefert in seinem Buch ‚Singlefrau und Märchenprinz’ (2002) eine Innenansicht des weiblichen Singles und entwickelt seine Theorie der „Flugbahn der Autonomie“. (S.159 ff.)

Zentrale Quelle für seine qualitative Studie über die Einsamkeit und Zerrissenheit moderner Frauen sind 153 Briefe. Ein Großteil dieser Briefe kam unaufgefordert von Leserinnen der französischen Zeitschrift ‚Marie Claire’ auf einen Artikel über eine alleinstehende Frau. Die Schreiberinnen waren zwischen 18 und 53 Jahre alt und bildeten keine repräsentative Stichprobe. Was die gesellschaftliche Position betraf, wiesen sie allerdings eine gute Verteilung auf. Auch Frauen aus einfacherem Milieu ließen sich von „der Schriftlichkeit“ nicht abhalten. (S.228) Trotzdem war eine leichte Überrepräsentation von Akademikerinnen zu verzeichnen. Viele waren ledig, etliche geschieden, einige alleinerziehend. Die Briefe zeugen von intensiven Auseinandersetzungen mit dem Alleinsein und spiegeln die Gedanken, Ängste und Erwartungen von Frauen, die im Spannungsfeld von Individualität und Selbstbestimmung einerseits, und dem Wunsch nach einem Partner andererseits leben.

Als zentral stellt er die in unserer Gesellschaft fest verankerte und verinnerlichte Norm des Lebens als Paar dar, welche bei der Singlefrau zum einen in dem bereits erwähnten „erhobenen Zeigefinger“, und zum anderen im Bild des ersehnten Märchenprinzen ihren Niederschlag findet, der je nach Anforderung des Augenblicks ein anderes Gesicht bekommt, beispielsweise das eines braven Ehemannes und liebevollen Papas für den „kleinen Prinzen“. (S.98) Wenn aber der Wunsch nach Autonomie die Oberhand behält, ist er umwerfend und von irrealer Perfektion, gestützt vom Verliebtheitsideal, das sich nicht mit Mittelmäßigkeit abfindet.

Die Singlefrau beschreibt er als zerrissene Frau, zerrissen zwischen radikal verschiedenen Lebensentwürfen, zwischen dem Drang nach Autonomie mit den Möglichkeiten eines geradezu grenzenlosen Daseins und dem Druck der heimlichen Norm, beziehungsweise einer ersehnten Ruhe, die in die Identität als hingebungsvolle Ehefrau und Mutter hineinlockt:, in das heimliche Modell für das Privatleben „Mann, Kind, Haus“ (S.98)

Das Portrait

Der Blick auf sich selbst

Durch die Zwiespältigkeit in ihrem Leben ist die moderne Singlefrau immer wieder Turbulenzen ausgesetzt und bewegt sich mit starkem Blick auf sich selbst ständig zwischen gegensätzlichen Polen hin und her. Diese Selbstreflexivität speist sich aus dem „Übel der fehlenden Grenzen“. (S.103) Wenn dies weniger als Übel empfunden wird, ist die Grenzenlosigkeit ein Quell aufregender Freiheit, sich selbst zu erfinden. Das allgemeine Modell für das Privatleben bietet dagegen zwar beruhigende Grenzen, bedeutet aber Verzicht auf Kreativität in Bezug auf das eigene Leben.

Die Singlefrau beschäftigt sich ständig mit Fragen über sich selbst und zu dieser „komischen“ Existenz. (S.104) Wenn das Modell akzeptiert wird, lautet die oft mit Tränen verbundene Frage: Warum bin ich davon ausgeschlossen? Wenn die Autonomie positiv erlebt wird, dreht sich die Selbstbefragung oft um die Norm und den Druck des gesellschaftlichen Modells.

Der Blick auf sich selbst bedient sich gerne zahlreicher Bücher. Und vor allem das eigene Buch – das Tagebuch – ist für viele Frauen ein wichtiger Verbündeter. Die Wahrsagerin, die nicht selten von Singlefrauen konsultiert wird, ist ebenfalls ein Werkzeug des Blicks auf sich selbst. Ihre Botschaft ist recht zuverlässig der „gesellschaftliche Code“: Liebe, Heirat, Kinder – das bekannte Modell für das Privatleben – was oft eine Hälfte des Selbst beruhigt. Denn fällt die Liebe wirklich von Himmel, wie die Wahrsagerin vermittelt, dann genügt es ja, einfach darauf zu warten. Solange kann man sein Leben ganz nach seinen eigenen Vorstellungen leben. Und daran kann auch die andere Hälfte Gefallen finden. (S.113 ff.)

Drinnen

Das wichtigste Refugium ist für viele Frauen das Bett, ein weiches und mit einem verbündetes Möbelstück, das sich anschmiegt, Schutz gibt, Entspannung und Trost bietet, gemütliche Vormittage im Bett, Freiheit und fötale Regression. Es ist aber auch ein Symbol für das Paar. Das Bett wird am Abend eher ungemütlich, und dem Nachdenken über sich selbst kann man dort auch nicht entkommen.

Auch der verlassene Esszimmertisch kann zum Feind werden, weil das gemeinsame Essen in der Familie ein für die Konstruktion der häuslichen Gemeinschaft sehr wichtiges Ritual ist. Dieses Ritual wird dekonstruiert, indem zu ungewöhnlichen Zeiten, nach Lust und Laune meist herumgeknabbert wird.

Die Regression fördert auch die häusliche Revolte, das Aufbegehren gegen die gesellschaftliche Rolle der Frau, gegen alle Normen und Konventionen. Es ist ihr ein Vergnügen, keinerlei Kollektivzwang zu unterliegen. Gerade das führt ihr die Vorzüge des Single-Daseins immer wieder deutlich vor Augen – Sich-Gehenlassen, alles ist möglich, keiner schaut zu. Das Leben erscheint leicht, weil es so einfach ist, spontan die Richtung zu ändern. Aber die andere Seite zeigt das Leiden an dieser Leichtigkeit. Das Leben erscheint dann leer. Man ist nirgendwo richtig eingebunden. (S.116-128)

Draußen
Dieses Gefühl der Leere drängt die Singlefrau zum Ausgehen, oft ganz plötzlich, um der Zerrissenheit des Selbst im eigenen Heim zu entfliehen. Singlefrauen gehen besonders gern zum Einkaufsbummel, zum Sport, mit Freundinnen ins Café und sehr häufig ins Kino. In der Öffentlichkeit ist sie eine unter vielen. Doch wenn sie sich zu viel im Draußen bewegt, kann das zum Gefühl von „reinem Füllwerk, zu identitärer Flüchtigkeit und Müdigkeit“ führen. (S.131)

Beziehungen hat die Singlefrau zur Familie, manchmal zu einem Liebhaber und vor allem zu Freundinnen. Das Beziehungsnetz ist sehr flexibel, offen, vielfältig und groß. Es ist dadurch ziemlich effektiv, aber „es fehlt ein dichtes, stabiles Zentrum.“ Oft füllen die Freundinnen in einer ersten Phase die Rolle dieses Zentrums aus. (S.133) Mit der Zeit jedoch neigt diese Gruppe dazu, sich aufzulösen oder inhaltlich zu verändern. Die Eltern leben auf einem anderen Planeten, dem „Planeten der Normalen“, der mit dem oftmals eher besorgten „erhobenen Zeigefinger“ auf einen deutet. Einen wirkungsvollen Ausgleich und starken Identifikationspunkt bietet vielen Singlefrauen die Arbeit. (S.135)

Männer und Sex
Was der Singlefrau meist mehr fehlt als Sex, ist der stützende Arm, beziehungsweise die sprichwörtliche Schulter zum Anlehnen oder/und beide starken Arme, in die sie sich hineinschmiegen kann. Das Bedürfnis nach Sex tritt wesentlich unregelmäßiger auf, überlagert manchmal das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit und fügt diesem Bedürfnis eine lebhaftere Dimension hinzu. Es kann aber auch sein, dass sich das Bedürfnis nach Sex in manchen Biografien besonders stark manifestiert, wenn eine Trennung etwa „Auslöser für eine rauschende Entdeckung körperlicher Freiheiten“ ist. (S.143)

Wenn die Singlefrau beschließt auszugehen, begibt sie sich von ihrer Traumwelt in die Wirklichkeit. Gerade in der Einstimmungs- und Vorbereitungsphase erlebt sie oft intensive, aufgeladene, vergnügliche, fast glückliche Momente, bis sie später realisiert, dass der Traummann nicht da ist – wieder nicht. Wenn „dieser Trick“ zu oft angewendet wird, wird die Männersuche zu einer traurigen, aber irgendwie notwendigen Routine.

Das Anspruchsniveau der Singlefrau ist hoch. Und je positiver sie ihre Gegenwart bewertet, umso höher ist es. Der „absolut perfekte Mann“ muss es dann sein oder gar keiner. (S.148) Diese Anspruchshaltung senkt natürlich zu dem bereits besprochenen ökonomisch-strukturellen Ungleichgewicht auf dem „Ehemarkt“ die Zahl „ernstzunehmender Kandidaten.“ (S.149)

Beide Geschlechter haben zudem oft ganz unterschiedliche Erwartungen an den anderen. Der Mann erwartet eher Sexualität und die Übernahme des Haushalts. Die Frau will eher Unterstützung und intime Kommunikation. Überhaupt sind ihre Erwartungen an die Beziehung traditionell höher. Der Gegensatz spitzt sich mit der Zeit noch zu, und nach längerem Warten scheint es gar keine geeigneten Kandidaten mehr zu geben. Es kommt dann vielfach zum Rückzug und zur Schwarzmalerei. Und was man anderen vorweg hat, wird nicht mehr gesehen.

„Tolle Typen“ sind rar und meist verheiratet, stehen aber zeitweilig als Abenteuer zur Verfügung. So findet sich die Singlefrau häufiger in der Rolle der Geliebten oder sogar der Dauergeliebten. (S.154)

Die Flugbahn der Autonomie

Beim Begriff der Flugbahn geht es um die Kraft, die das Individuum in eine Lebensgeschichte hinein lenkt, welche dann ihre Logik abspult. Die Soziologen der Chicagoer Schule wandeln den Begriff häufig in den der ‚Laufbahn‘ um. Sie verstehen die biografische Entwicklung als Kreuzung von inneren Prozessen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. (KAUFMANN, 2002, S.161)

Sich selbst sein
KAUFMANN möchte das Gesellschaftliche jedoch nicht nur auf die Interaktionen beschränken, sondern zugleich eine historische Dimension miteinbeziehen. Von zentraler Bedeutung ist für ihn der ‚historische Vorwärtsdrang’. Gemeint ist, dass Personen durch ihre Taten den Prozess der Geschichte vorantreiben, und sie zugleich, meist unbewusst, zu Vorreitern von etwas macht. Er geht von einem „ununterdrückbaren Drang, sich selbst zu sein“ aus, (vgl. auch CARL ROGERS, 2000, S.164 ff.) anhand dessen sich der Vorwärtsdrang der Geschichte manifestiert. (KAUFMANN, 2002, ebd.)

Die Veranlagung
Welche Menschen sind es, die als Singles durch die Welt gehen? Und warum? Im Volksmund werden Charakterzüge für ausschlaggebend gehalten: „Der verklemmte Schüchterne“, „der berechnende Egoist“, „die alte Jungfer“ etc. Laut KAUFMANN gibt es für diesen Lebensstil schon eine gewisse Veranlagung, Charakterzüge allein reichen aber niemals aus. Veranlagungen, die das Alleinleben fördern, lassen sich zwei entgegen gesetzten Polen zuordnen: „Man will, aber kann nicht“ – der Schüchterne; oder „man kann, aber will nicht“ – der Selbstbewusste. Ein Zuwenig oder auch ein Zuviel an Selbstbewusstsein kann seiner Ansicht nach also auf unterschiedlichen Wegen mit ins Singledasein führen. (S.174)

Der unbestimmbare Sog
Dieser Sog entspringt einem „unbestimmbaren, gesellschaftlichen Drängen“ und oft dem zutiefst empfundenen Wunsch, sich selbst zu sein, was bei Frauen, so sagt KAUFMANN, viel häufiger der Fall sei, als bei Männern. (S.175) Kreativität ist das förderlichste und zentrale Moment für die Flugbahn der Autonomie. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass sehr viele Künstler Singles waren und sind. Bei vielen alleinstehenden Frauen besteht jedoch eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Potential, das sie vage in sich spüren und der konkreten Umsetzung.

Über eine kleine Gruppe von freiwilligen Singles hinaus, die es versteht, in vollen Zügen von dem zu profitieren, was ihnen dieses Leben bietet, „wird eine große Zahl von Individuen wider Willen mitgezogen.“ (S.178) Ein zusätzliches Motiv trotzdem weiterhin ein Single-Dasein zu führen, ist Verweigerung. Das eigene Leben wird mit einem Leben in einer Beziehung verglichen, um zum Beispiel den Schwächen des Familienmodells nachzuspüren. Dabei wird nicht die Familie als solche, sondern als eine bestimmte Daseinform, abgelehnt. Ein weiteres Motiv ist Anspruch. Eine Frau, die sich in einem autonomen Leben gut eingerichtet hat, wird tendenziell ganz konkret abwägen, was ihr dieser oder jener Mann, dem sie begegnet, dagegen zu bieten hat.

Warten
KAUFMANNs grobe Typologie unterscheidet ‚galoppierende Pferde’, als freiwillige Singles von ‚Dinosauriern der Liebe’, den Singles wider Willen. Erstere sind aktiv und pflegen ein breites, offenes und wechselndes Beziehungsnetz. Letztere leben oft in einer engen, lokalen, stabilen und geschlossenen Beziehungsstruktur. Sie verzehren sich nach Liebe, die in ihrer Sicht absolut und heilbringend ist und vom Himmel fällt. Ist die Identität geschwächt, drängt sich das Warten in den Vordergrund und betont die negativen Seiten ihrer Existenz. Der Traum von Mann, Kind, Haus wird zur Obsession.

Kontakte und Beziehungen herzustellen erfordert eine besondere Kompetenz. Lebt man allein, muss man um einiges mehr Einsatz zeigen, um in den Genuss eines sozialen Lebens zu kommen. Armut und wenig soziale und kulturelle Ressourcen korrelieren mit einem begrenzten und engen Beziehungsnetz.

Das Leben lediglich aus einer Perspektive des Mangels wahrzunehmen, ist die Folge einer radikalen, passiven Wartehaltung, einer Vorstellung von Zukunft als reinem Schicksal. Wenn der Märchenprinz eines Tages tatsächlich kommen sollte, um einen aus diesem unerträglichen, leblosen Leben zu befreien, dann liegt das daran, dass es „irgendwo geschrieben steht“ (S.194). Diese Philosophie verfängt sich in der Dichotomie: Das Nichts – die Einsamkeit; oder der Prinz – die Befreiung. Doch wenn von letzterem zu viel erwartet und er zu sehr idealisiert wird, wird er unerreichbar, was wiederum dazu führt, dass sich die Leere noch verstärkt.

Der Teufelskreis führt vor Augen, dass das Alleinleben in Verbindung mit speziellen Denkmustern und Gewohnheiten in der Einsamkeitsfalle endet. Verschärft wird diese Problematik zusätzlich, wenn weitere Handlungsräume abhanden kommen: Keine Arbeit, keine Familie, keine Wohnung – der Weg in den negativen Individualismus. Obdachlose und Vagabunden zeigen, dass eigentlich „nur der positive Pol der Autonomie mit Sinn ausgestattet ist.“ (S.198)

Auf der Suche nach Selbstsicherheit
Nach dem Unbehagen des kritischen Blicks auf sich selbst, entsteht der Drang, sich wieder auf positive Weise und als in sich Ganzes zu konstruieren. Die Flucht oder der Ausgehdrang ist die Strategie der ‚galoppierenden Pferde’ und hat „eine direkte therapeutische Funktion“ (S.200), um Selbstzweifel zu beseitigen und das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Diese Art therapeutischer Flucht verlangt Energie, Willenskraft und teilweise auch Zwang. Dabei hat der Tatendrang nicht immer ein bestimmtes Ziel im Auge. Man geht aus, um sich besser zu fühlen oder einfach, weil man ausgehen muss. Die Befriedigung besteht dann möglicherweise allein in der Pflichterfüllung.

Der Tatendrang löst eine Kette von Mechanismen aus, aufgrund derer man draußen den Anschein erweckt, man sei glücklich. Diese Logik bringt Frauen dazu, ihre Identität auf der Grundlage des Blicks der anderen zu konstruieren. Gelingt dies nur als Karikatur kommt es zum negativen „Panzereffekt“: Ein Gefühl der Lüge, von Gespaltensein zwischen einem wahren und einem falsches Selbst verschärft sich. Anders der positive „Panzereffekt“: Ist er erst einmal zur Gewohnheit geworden, fügt er der positiven Identität immer mehr „Fleisch an die Knochen“ (S.205) und transformiert sich zu einem authentischen Teil des Ichs. Die Singlefrau bemüht sich, immer perfekter zu sein. Doch mit zunehmender strahlender Selbstsicherheit wird auch das Eingehen von Beziehungen erschwert. Der Anziehungskraft wirkt die Unerreichbarkeit entgegen. Sie ist zu beeindruckend, zu perfekt und kommt nicht mehr als Partnerin in Frage. KAUFMANN bezeichnet dies als „das Paradox des schönen Scheins.“ (S.206)

Die radikale Vision vom autonomen Leben macht Angst. Daher wird häufig versucht, einen Kompromiss zu finden, um das Ziel zwar weiterhin zu verfolgen, aber die Brücken zur traditionellen Identität in der Gesellschaft zu bewahren. Eine Strategie ist, die Autonomie intensiv, aber nur als vorübergehende Jugendphase zu leben. Eine andere Strategie ist die kontrollierte Gespaltenheit zwischen der Superfrau draußen und der vom Prinzen träumenden Frau drinnen. Ein dritter „Trick“ ist das begrenzte Sich-Einlassen, eine Haltung zwischen radikaler Selbstsicherheit und Rückzug in die Behaglichkeit des Gewohnten. Das ist eine Autonomie, die nichts mehr erwartet und häufig zur Haltung im Alter wird. (S.209)

Trotz aller Strategien ist intuitiv ein virtueller Sozialisationsrahmen weiter präsent und verstärkt ein Gefühl von Defizit. Die starke Norm für das Privatleben hält aber zurück. Doch Gleichberechtigung ist in diesem Modell „nur schwer zu verwirklichen.“ Denn noch ist die aufopfernde Hingabe der Frau die Grundlage der Familie und damit der Gesellschaft. Wenn Aufopferung mit Autonomie ersetzt wird, könnte laut KAUFMANN das Fundament der Gesellschaft einstürzen. (S.210)

Autonomie mit Begleitung – Eine Vision
Die Männerfrage spielt auch bei eindeutig autonomen Frauen eine Rolle. Für sie gilt es, einen Kompromiss zu finden, indem sie versuchen, ihre Autonomie und Selbständigkeit intensiv zu leben, sich gleichzeitig aber ein kleines Stückchen Paar zu bewahren. Dahinter stecken unterschiedliche Arrangements, die aber alle darauf beruhen, sich nur teilweise auf die Beziehung einzulassen, und diese auf bestimmte Räume und Zeiten zu beschränken, jenseits derer das Singledasein beibehalten wird.

Diese „perforierten Paare“ stellen für KAUFMANN die Alternative zwischen dem Modell für das Privatleben und den radikaleren Flugbahnen des Single-Daseins dar. “Wer einen Blick in die Zukunft der Gesellschaft tun will, kommt nicht umhin, sich die Bettgeheimnisse dieses Vagabundierens irgendwo zwischen Liebe und Freundschaft genauer anzusehen. Denn vielleicht entscheidet sich hier ein wichtiges Datum unserer Zukunft, und diejenigen, die diese Autonomie mit Begleitung leben, sind – ohne es zu wissen – Erfinder der Zukunft.“ (S.214)

In dem Bild des Märchenprinzen sieht KAUFMANN nach Anfangsschwierigkeiten auf den zweiten etwas wohlwollenderen Blick eine mögliche Instanz, ein Instrument, das analog zur einstigen höfischen Liebe, durch die Übung der reinen Liebe, zu Heldentaten auf der Flugbahn der Autonomie animiert. (S.224)

*Dieser Beitrag wurde hier schon einmal im Rahmen meiner Diplomarbeit veröffentlicht.

Beziehungswelten und Beziehungsmärkte*

Spätmoderne Beziehungswelten

Unsere Beziehungswelten haben sich in wenigen Jahrzehnten enorm verändert. Heute wird seltener geheiratet, und wenn, dann erst später. Das Erstheiratsalter ist stark angestiegen. Unter den 25- bis 44-jährigen frisch Verheirateten stieg das Durchschnittsalter auf 33,7 Jahre bei den Männern und auf 32,7 Jahre bei den Frauen. (STATISTISCHES BUNDESAMT, 2005, S.19) Neben der Ehe etablieren sich verschiedene Formen nichtehelicher Beziehungen. Besonders ausgeprägt ist die Entwicklung bei den Lebensgemeinschaften: Von 1996 bis 2004 hat sich ihre Zahl um 34% erhöht. Trotzdem ist ihr Anteil an allen Paaren in Deutschland laut Mikrozensus 2004 noch nicht hoch. Nur jedes zehnte Paar lebt in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft. Der Anteil an gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften ist ebenfalls gestiegen, dennoch verhältnismäßig wenig verbreitet. Besonders deutlich waren die Rückgänge an Eheschließungen unter den 25- bis 44-Jährigen. In dieser Altersgruppe ging der Anteil seit 1991 bei Männern um weitere 13% auf 50% zurück, bei Frauen um 12% auf 60%. (S.18) Scheidungen sind noch häufiger geworden und finden immer früher statt. Trennungen führen auch dazu, dass immer mehr Kinder bei nur einem Elternteil, im Verhältnis 6:1 bei der Mutter aufwachsen. 2004 waren bereits 20% aller Eltern-Kind-Gemeinschaften alleinerziehend. (S.22) Die Institution Ehe hat ihr Monopol verloren, Beziehungen und Familien zu definieren und Sexualität zu legitimieren. (SCHMIDT, 2004, S.27)

Dieser Wandel von Beziehungen und Familien verändert, wie bereits erwähnt, die Gesellschaft einschneidender als die sexuelle Revolution der 68er, in der vor allem die verstaubte Sexualmoral hinweggefegt wurde und einschneidender als die Revolution der 80er, die durch die Frauenbewegung eingeleitet, selbstbestimmte, friedliche und herrschaftsfreie Sexualität thematisierte. SCHMIDT spricht nun von der dritten Phase der sexuellen Revolution: Freigesetzt von wirtschaftlichen Zwängen, traditionellen Geschlechterrollen und Arbeitsteilung ist Intimität und Emotionalität noch wichtiger geworden.

Beziehung pur
„Die reine Beziehung“ (nach ANTONY GIDDENS, 1994) zwischen gleichberechtigten Partnern in Freiheit und ohne gegenseitige Abhängigkeiten im Sinne von „Beziehung pur“ wird zur neuen, nur um ihrer selbst willen eingegangenen Beziehungsform mit hoher emotionaler Qualität. Sie besteht nur so lange, wie beide Partner sich darin wohl fühlen. Das macht Beziehungen natürlich instabil, denn die Ansprüche sind hoch. Beide müssen vielfältige Talente entwickeln, um die ständige “aktive und reziproke emotionale und kommunikative ‚Arbeit’“ in einer „durch und durch“ psychologisierten intensiven Beziehung zu leisten. (SCHMIDT, 2004, S.29) BECK spricht 1990 schon von der „Beziehungsarbeit im Dauerdialog“ und der „Tyrannei der Authentizität“. (S.123) Diese komplexe und nicht von Rollen gesteuerte Beziehungsform fällt Männern bekanntlich schwerer als Frauen, und es ist daher nicht verwunderlich, dass Frauen häufiger die Initiative zur Trennung ergreifen. Die Folge sind serielle Beziehungen, die mit seriellen Singlephasen abwechseln.

Neue Studienergebnisse

Das zeigt die letzte große Studie des Instituts für Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. (SCHMIDT et al., 2003) Für ‚Beziehungsbiografien im sozialen Wandel’ wurden im Jahr 2002 776 Männer und Frauen aus Hamburg und Leipzig, die der Generation der 30-Jährigen, 45-Jährigen und 60-Jährigen angehören, ausführlich interviewt. Es ging dabei nicht um Ergebnisse, die repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik sind. Die Untersucher unter der Leitung von GUNTER SCHMIDT konzentrierten sich auf die urbane Bevölkerung, da diese als Trendsetter gilt und langfristig Rückschlüsse auf Entwicklungen auch in ländlichen Gebieten zulässt. Die Städte Hamburg und Leipzig wurden ausgewählt, um einen Ost-West-Vergleich zu ermöglichen.

Serielle Monogamie und hohe Ideale

Die Leipziger wandten sich laut Studie erst später und nicht so drastisch von der Ehe ab. Und in Hamburg gibt es mehr 30-jährige Singles als in Leipzig. 30-Jährige haben mehr und kürzere Beziehungen und leben zwischendurch immer wieder als Single. Sie können jetzt schon auf mehr Beziehungen zurückblicken als die 60-Jährigen, das heißt sie haben mehr und kürzere feste Beziehungen, leben also in besagter „serieller Monogamie“. Trotzdem ist der Wunsch, dauerhaft mit einem Partner zusammen bleiben zu wollen, auch bei den Jüngeren ungebrochen. Doch mit dem Wunsch nach Beständigkeit konkurrieren die erwähnten Ansprüche an eine Beziehung.

Hedonistische Individualisten oder „Nebenprodukte“ der seriellen Monogamie?
Der Anteil dauerhaft „Beziehungsferner“, die lange Phasen als Single leben, für die das Single-Dasein eine Art Lebensstil und nicht eine reine Übergangsphase darstellt, ist über die drei untersuchten Generationen nicht angestiegen. (DEKKER & MATTHIESEN, 2004, S.50) Dagegen prognostizierte ULRICH BECK (1991), der den Individualisierungsbegriff in den 80er Jahren in die Debatte um gesellschaftliche Modernisierungsprozesse einführte, einen Anstieg der Einpersonenhaushalte in Großstädten auf 70%, als Ausdruck der weiter zunehmenden Individualisierung. Heute stagnieren die Zahlen eher. In den „single-reichen“ Metropolen Berlin und Hamburg liegt der Anteil bei 50%. (STATISTISCHES BUNDESAMT, 2005) Individualisierung reformiert auch Beziehungen und Beziehungsformen, und nur wenige hedonistische und selbstverwirklichungsorientierte Singles leben ganz bewusst ohne Partner. „Die Zunahme von Singles ist also tatsächlich nicht als Durchsetzung eines eigenen, beziehungsfernen Lebensstils zu werten, sondern als Ergebnis der großen Beziehungsfluktuation.“ (DEKKER & MATTHIESEN, ebd.)

Trennungen und Singlephasen

Die 776 Männer und Frauen berichteten über 2585 Beziehungen und 1422 Singlephasen im Laufe ihres Lebens. Das Kriterium für eine Beziehung war das Selbstverständnis der Partner, nicht das Zusammenleben, wie es beim Statistischen Bundesamt definiert ist. Nur 23% aller festen Beziehungen waren ehelich. Sie dauerten zwischen wenigen Monaten und 45 Jahren. Etwa 30% der knapp 2000 erlebten Trennungen führten übergangslos in eine neue feste Beziehung, 70% in eine kürzere oder längere Singlephase. Die Singlephasen variierten zwischen wenigen Monaten und 25 Jahren. Ein übergangsloser Neubeginn ist bei den 30-Jährigen etwas seltener als bei den 60-Jährigen und bei den Hamburgern etwas seltener als bei den Leipzigern. Da das moderne Muster der „seriellen Beziehungen“ bei den Hamburgern und den Jüngeren besonders verbreitet ist, schließen die Untersucher, dass dieses Muster die Bereitschaft erhöht, sich auch dann zu trennen, wenn nicht gleich wieder in einer neuen Beziehung Sicherheit gefunden wird. In allen Altersgruppen ergreifen Frauen häufiger die Initiative sich zu trennen: ca. 50% zu 33%. Bei 17% aller Trennungen ging die Initiative von beiden aus. (SCHMIDT et al., 2003, S.24)


Sexualität in spätmodernen Beziehungswelten

In festen Beziehungen bleibt sexuelle Untreue sporadisch. Nur jeder hundertste Geschlechtsverkehr findet außerhalb einer Beziehung statt. Auch Jüngere haben vor allem innerhalb der eigenen Beziehung Sex. Eine Ausnahme bilden homosexuelle Männer, die Sex auch häufiger außerhalb einer festen Bindung erleben. Insgesamt, sagt SCHMIDT, ist die Sexualität „im Griff fester Beziehungen“, und das muss nicht unbedingt besonders viel Sex sein. Mehr als ein Drittel der 30-Jährigen in Zweierbeziehungen hat nur ein- bis dreimal im Monat oder nicht einmal monatlich Sex mit dem Partner. Laut Studie fanden nur 5% „aller Geschlechtsverkehre“ bei Singles satt, obwohl diese 25% der Befragten ausmachten. (2004, S.32)

Das Märchen vom wilden Sexualleben der Singles

Das viel zitierte lockere Singleleben mit zahlreichen Liebesabenteuern und Sex nach Lust und Laune entpuppt sich offensichtlich als Mythos. Singles aller Alterstufen führen laut SCHMIDT ein eher „karges Sexualleben“. (2004, S.31) Für die meisten Jüngeren ist die Zeit als Single nur eine Zwischenphase bis zur nächsten Beziehung. Hedonistische Singles mit vielen wechselnden Sexualpartnern sind vergleichsweise eine Minderheit. Wenn man einen Single, der im letzten Jahr fünf und mehr Sexpartner hatte und mindestens einen Geschlechtsverkehr in den letzten vier Wochen, als hedonistisch bezeichnet, gehören 4% aller Singles in diese Kategorie. Die meisten finden sich bei den 30-Jährigen; bei Frauen und Männern gleich häufig. (SCHMIDT et al., 2003, S.28)

Sexualpraktiken
Nach Sexualpraktiken wurde ebenfalls gefragt. Oralsex bei den 30-Jährigen gehört zum üblichen Repertoire, und Selbstbefriedigung wird vor allem von den Jüngeren zunehmend als eigenständige Form der Sexualität verstanden, die neben der Partnersexualität „in friedlicher Koexistenz“ praktiziert wird. Sexualität hat sich laut SCHMIDT (2004) entdramatisiert. Sie wandelte sich vom mythenbeladenen, wilden Zusammenprall der Triebe zu einer nutzbaren „Ressource“. Was die Partner sexuell miteinander tun, wird jetzt „ausgehandelt“. (S.10) Bei den etwas ausgefalleneren Sexualpraktiken widersprechen die gefundenen Daten dem Bild, das die Medien gerne verbreiten. „Sex mit Mehreren oder im Swingerclub, Partnertausch, SM, Leder oder die Kleidung des anderen Geschlechts beim Sex tragen, werden nur von einer winzigen Minderheit (1% bis 3%) gelegentlich praktiziert.“ (SCHMIDT et al., 2003, S.19) Deutlich häufiger ist dagegen das Experimentieren mit Reizwäsche, Sex in der Öffentlichkeit, gemeinsamem Pornofilmkonsum, einem Dildo oder Kunstpenis oder harmlosen Fesselspielen. 30-Jährige sind experimentierfreudiger, vor allem als die 60-Jährigen. Männer und Frauen berichten etwa gleich häufig über diese Erfahrungen. Wenn man einmal davon absieht, dass die Leipziger eine größere Vorliebe für Reizwäsche haben, unterscheiden sich Ost und West nur geringfügig

Nachfolgende Tabellen zeigen die sexuellen Praktiken (in Prozent der Befragten), die a) jemals und b) im vergangenen Jahr zum Einsatz kamen. (aus SCHMIDT et al., 2003)

Beziehungsmärkte

Obwohl sich die ‚romantischen Liebe’, als Prinzip der Partnerfindung gegenüber ökonomischen Erwägungen in der Moderne weitgehend durchgesetzt hat, ist es auch heute noch eine Frage von Angebot und Nachfrage, ob man einen Partner findet. (HRADIL, 1995, S.80)

Einpersonenhaushalte
17% der Gesamtbevölkerung gelten laut Mikrozensus 2004 in Deutschland als allein lebend. Dabei ist für die Statistik das entscheidende Kriterium, ob eine Person für sich allein wirtschaftet. Diese Zahl sagt also nichts darüber aus, wie viele Personen in Einpersonenhaushalten auch tatsächlich ohne Partner oder Kinder sind. Zu den Einpersonenhaushalten zählen beispielsweise auch Paare mit getrennten Wohnungen („Living apart together“); unverheiratet zusammenlebende Paare, die getrennt wirtschaften; Verheiratete, die aus beruflichen Gründen einen Zweitwohnsitz unterhalten (Commuter Ehe); Alleinerziehende, deren Kinder nur zeitweise im eigenen Haushalt leben; und alle Bewohner von Wohngemeinschaften, die voneinander unabhängig wirtschaften.

Geschlechterverhältnisse
Frauen zwischen 25 bis 54 Jahren lebten wesentlich seltener allein, als Männer in vergleichbarem Alter. (STATISTISCHES BUNDESAMT, 2005, S.24) Männer und Frauen, die sich im frühen oder mittleren Erwachsenenalter trennen, unterscheiden sich nicht in der Dauer, die sie allein bleiben. Frauen, die sich nach dem 45. Lebensjahr trennen, nehmen laut der Hamburger Beziehungsstudie allerdings eine ausgeprägte Sonderrolle ein. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt auch fünf Jahre nach der Trennung noch allein. Entweder ist ihre Bereitschaft besonders gering, sich wieder zu binden, oder es ist für sie besonders schwierig, einen geeigneten Partner zu finden. Bei den 60-Jährigen leben in beiden Städten doppelt so viele Frauen wie Männer alleine (29%:14%). (SCHMIDT et al., 2003, S.24) Bundesweit ist das Verhältnis ähnlich, beziehungsweise steigt der Anteil allein lebender Frauen mit zunehmendem Alter rasch und stark an.

Dies hat mehrere Gründe: Die Frauen sind häufiger verwitwet, da sie eher ältere Partner mit geringerer Lebenserwartung haben. Männer haben es offenbar leichter, nach Verwitwung oder Trennung eine neue Partnerin zu finden, da höhere Altergruppen ihres Geschlechts auf dem Beziehungsmarkt knapp sind und sie zudem häufiger jüngere Partnerinnen wählen, beziehungsweise wählen können. Außerdem können Frauen dieser Altersgruppe ohne Beziehung besser zurechtkommen als Männer, und das Singledasein stellt für sie in diesem Alter häufiger eine akzeptable Alternative zu Beziehung und Ehe dar. (SCHMIDT et al., 2003, S.24-25)

Generell wächst für Frauen durch Bildung und Erwerbsleben die Unabhängigkeit von einem potenziellen Ehemann. Vor allem großstädtische Milieus mit ihrer geringeren sozialen Kontrolle werden überproportional von Singles besiedelt. Dort wachsen wiederum die Einflüsse, die immer mehr Menschen dazu bewegen, alleine zu leben. (HRADIL, 1995, S.79)

Obwohl das Verhältnis von Singlefrauen zu Singlemännern im heiratsfähigen Alter deutlich zugunsten der Frauen ausfällt, wird das Singledasein gerade von Frauen stark thematisiert und problematisiert. 1992 kamen, zusätzlich bedingt durch ungleiche Geschlechterproportionen der Jahrgänge, auf 100 ledige Frauen zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr sogar 185 ledige Männer. (STATISTISCHES BUNDESAMT zitiert nach HRADIL, 1995, S.75) Das spricht auf den ersten Blick für ein relativ großes Angebot, aber vielleicht auch von ganz unterschiedlichen Ansprüchen und einer Kluft zwischen den Geschlechtern. Auch die Beliebtheit von alleinstehenden Filmheldinnen wie ‚Bridget Jones’* und den Protagonistinnen der Fernsehserien ‚Ally McBeal’* und ‚Sex and the City’*, bilden das starke Interesse an dem Thema ‚weibliche Singles’ ab.

Die ‚Harvard-Yale-Heiratsstudie’
Mitte der 80er Jahre schockierte in den USA die ‚Harvard-Yale-Heiratsstudie’. Forscher kamen zu dem Schluss, dass viele Frauen, die alles zu haben scheinen, wie gutes Aussehen, gute Jobs, höhere Bildungsabschlüsse und hohes Einkommen, nie einen Mann haben werden. Frauen mit College-Bildung, so hieß es in der ziemlich reißerisch interpretierten Veröffentlichung der Newsweek: ‚Too late for Prince Charming?’ (1986), bleibe mit 35 Jahren nur noch eine fünfprozentige Chance zu heiraten. Und für eine 40jährige unverheiratete Karrierefrau sei die statistische Aussicht, von einem Terroristen erschossen zu werden, größer, als einen Ehemann abzukriegen. (SALHOLZ, 1986, S.55)

Der Artikel geistert heute noch immer wieder einmal durch die Presse. Was ihn und ähnliche Artikel unzeitgemäß macht, ist die Annahme, dass es für das Glück eines Menschen zu einer Heirat kommen muss. Man wertet den Single zwar nicht offen ab, aber der Gedanke, dass das Paar das Eigentliche sei, hält laut EVA JAEGGI (1992) „immer noch in einem Winkel unseres Bewusstseins Wache.“ Auch JEAN-CLAUDE KAUFMANN (2002), auf dessen Studie ich im nächsten Beitrag eingehen werde, umschreibt dieses Phänomen mit dem „erhobenen Zeigefinger“, der diese Norm der Paarbeziehung in Gesten der Umwelt und in den Konflikten aufzeigt, unter denen vor allem Singlefrauen zu leiden haben. (S.44 ff.)

Schwierigkeitsfaktoren
Das mehr oder weniger ungewollte Singleleben hat Gründe. Folgende Faktoren erschweren vor allem das Finden eines geeigneten Kandidaten. Der Altersunterschied zwischen Männern und Frauen in einer Beziehung liegt nach wie vor konstant bei etwa zwei Jahren und steigt noch bei zunehmendem Alter des Mannes an. Das heißt, die Zahl der infrage kommenden Männer ist nach der Realisierung einer Karriere kleiner geworden. Genauso konstant ist der Unterschied im soziokulturellen Niveau. Doch je mehr sich die Singlefrauen auf ihren Beruf einlassen, desto erfolgreicher werden sie. Es wird also immer schwerer einen angemessenen Partner zu finden, denn Singlemänner befinden sich eher unten auf der sozialen Leiter. (HRADIL, 1995, S.30)

Eine Journalistin äußerte sich zur Mediendiskussion um Akademikerinnen, die schwanger werden sollten, damit „die Richtigen“ Nachwuchs bekommen. Sie stellt fest, dass das Problem weniger die Frauen seien, als „Frauen in Kombination mit Männern, kurz: unmodernes Paarungsverhalten. (…) Der qualifizierte deutsche Mann kann zwar eine Partnerin auf gleicher Augenhöhe heiraten – nimmt aber gerne die Sekretärin. (…) Wer Arzt ist, lernt ja so viele Krankenschwestern kennen. Für Ärztinnen aber kommt ein Pfleger gar nicht infrage, es sei denn, sie wollen sich als sexuell bedürftig lächerlich machen. Es gibt für die Akademikerin zu wenige Männer. Solche, die das Leben auf einer Augenhöhe verhandeln.“ (MAYER, DIE ZEIT, 11/2005)

Der nächste Beitrag widmet sich dann der Singlefrau.

*Diese Beitrag wurde schon einmal im Rahmen meiner Diplomarbeit veröffentlicht.