Risikokinder und Resilienz

Was ist Resilienz?
Weil lebende Systeme innere und äußere Gegebenheiten niemals vollständig beherrschen können, müssen sie in der Lage sein, Abweichungen auszugleichen. Etwas technischer ausgedrückt müssen sie fehlertolerant, fehlerfreundlich, d.h. resilient sein.

Ein anschauliches Beispiel für Resilienz ist die Fähigkeit des Stehaufmännchens seine aufrechte Haltung aus jeder beliebigen Lage wieder einzunehmen.

In der Psychologie wird mit Resilienz die Stärke von Menschen – vorzugsweise von Kindern – bezeichnet, die sich trotz hoher psychosozialer und oftmals auch physischer Belastungen zu „gesunden“ Persönlichkeiten entwickeln, bzw. in manchen Fällen sogar ganz besonders gelungene Entwicklungen aufweisen.

Die unbesiegbaren „Superkids“

Solche erfolgreichen „Superkids“, wie Kauffman sie 1979 nannte, wurden in einer Reihe von Veröffentlichungen in den späten 70er und frühen 80er Jahren überwiegend in Nordamerika und Großbritannien nahezu als Wunder beschrieben. Werner und Smith, die sich in einer Längsschnittstudie mit erfolgreichen Risikokindern auf Kauai beschäftigten, beschrieben sie 1982 als verletzlich aber unbesiegbar.

Um welche Risikofaktoren geht es überhaupt?
Ich will an dieser Stelle psychosoziale Risiken hervorheben. (Selbstverständlich schließt das Konzept physiologische Risiken wie schwere Krankheiten, körperliche und geistige Behinderungen mit ein.) Hauptrisiken für die kindliche Entwicklung sind zum Beispiel:
– Armut
– lange Arbeitslosigkeit
– chronische Disharmonie in der Familie
– eine große Familie und sehr wenig Wohnraum
– Migrationshintergrund
– niedriges Bildungsniveau der Eltern
– Kriminalität eines Elternteils
– seelische und körperliche Misshandlungen
– minderjährige Mütter/Eltern
– Abwesenheit bzw. Verlust der Eltern oder eines Elternteils
– Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit der Eltern
– und psychische Störungen, vor allem der Mutter

Entscheidend sind dabei die Wechselwirkung und die kumulative Wirkung verschiedener Stressoren. Ein Risikofaktor allein erhöht nicht unbedingt die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Entwicklungsstörungen, während mehrere Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit um ein vielfaches erhöhen können.

Eine bekannte Beispielstudie: Die Kinder von Kauai

Auf Kauai, einer Insel des Hawaii-Archipels untersuchten Werner und Smith zwischen 1955 und 1995 fast 700 Kinder.

Eine Vielzahl dieser Kinder (30%) war über 2 Jahre mehreren solcher Risikofaktoren ausgesetzt.

Der Vergleich zwischen den Kindern, die sich trotz dieser Risiken „normal“ entwickelten (ein Drittel), und den Kindern, bei denen es Auffälligkeiten gab (überwiegend psychisch auffällig), zeigte, dass es offensichtlich Schutzfaktoren gab:
äußere Schutzfaktoren – zum Beispiel wenigstens eine Bezugsperson – und innere Schutzfaktoren durch Kompetenzen, über die das Kind selbst verfügt.

Schutzfaktoren über die das Kind selbst verfügt
– Erstgeborenes Kind
– Weibliches Geschlecht (in der Kindheit)
– Mindesten durchschnittliche Intelligenz
– Positives Temperament (flexibel, aktiv, offen)
– Positives Sozialverhalten und soziale Attraktivität
– Positives Selbstwertgefühl,
– Gefühl von Selbstwirksamkeit,
– aktive Stressbewältigung

Schutzfaktoren in der Familie

– stabile emotionale Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson
– positives, unterstützendes Erziehungsklima
– familiärer Zusammenhalt, gemeinsame Aktivitäten und Regeln
– Modelle positiver Bewältigung
– Religiöse Praxis

Schutzfaktoren im weiteren sozialen Umfeld

– Freundschaftsbeziehungen
– positive erwachsene Modelle (Lehrer, Pfarrer, Nachbarn usw.) – Hervorhebung für meine liebe Blognachbarin –
– soziale Unterstützung
– positive Schulerfahrungen

Auf die Rolle der Schule möchte ich kurz näher eingehen, denn resiliente Kinder nennen Lehrer sehr häufig als außerfamiliäre Vertrauensperson. Diese Bedeutung ist den Lehrern aber oft nicht so bewusst.

Neben der Funktion des Lehrers als positives Modell und als wichtige Bezugsperson ist Bildung eine wichtige Schlüsselressource für die individuelle und soziale Entwicklung.

Bildungschancen und sozioökonomischer Status
Der Zusammenhang zwischen Bildungschancen und sozioökonomischem Status ist in Deutschland sehr eng. Jedes fünfte Kind ist funktionaler Analphabet und jedes zehnte Kind verlässt ohne Abschluss die Schule.

Gerade Kinder aus benachteiligten Familien stehen oft schon zu Beginn ihres Lebens im Abseits. (Arme Kinder bleiben arm.) Investitionen in die frühe Förderung können daher lohnend sein, denn sie ersparen der Gesellschaft Folgekosten und erhöhen zudem die Chance, dass aus Sozialhilfeempfängern Beitragszahler werden.
In sozialen Brennpunkten müssen Hilfen allerdings niedrigschwellig sein, denn trotz Unterstützungsbedarf nehmen gerade bedürftige Familien kaum an speziellen Programmen teil.

In den Niederlanden wurden beispielsweise mit den Vensterschools und dem OPSTAPJE-Programm niedrigschwellige Angebote geschaffen.

Das Modell der „Vensterschools“ aus den Niederlanden

Die ersten Vensterschools (übersetzt Fensterschule im Sinne von offener Schule) wurden vor 12 Jahren in Groningen ins Leben gerufen.

Dabei handelt es sich um stadtteilbezogene zentrale Einrichtungen, die verschiedene Schulen und Angebote weiterer Einrichtungen (z.B. Jugendhilfe) bündeln – mit dem Ergebnis eines großen Angebots an
– Bildung,
– Erziehung,
– Gesundheitsförderung,
– Sozialberatung,
– Bibliotheken,
– Sport,
– Spiel,
– Musik, usw.
und einer Infrastruktur der kurzen Wege. Kooperation führt zu immer neuen Aktivitäten und jede Vensterschool ist einzigartig.

Eine Vensterschool bündelt das alles unter einem Dach (oder einem Campus) und versteht sich als lebendiges pulsierendes Herz eines Wohngebiets, denn das reichhaltige und abwechslungsreiche Angebot richtet sich neben den Kindern auch an die Eltern und andere Bewohner.
Das nachfolgend beschriebene Programm kann ebenso unter ihrer Schirmherrschaft stehen.

Um aber zu verhindern, dass das Konzept der Vensterschools als Modell für unterprivilegierte Stadtteile stigmatisiert wird, wurden gezielt Entwicklungen in privilegierten Stadtteilen vorangetrieben.

OPSTAPJE – Ein Programm zur Stärkung von sozial benachteiligten Familien mit Kleinkindern

Als Schutzfaktoren haben sich, insbesondere bei Armut, ein positives Familienklima mit häufigen gemeinsamen Aktivitäten und ein gutes soziales Netzwerk erwiesen. Hier setzt die Arbeit mit Opstapje an: Eltern werden dazu angeregt, sich häufiger mit ihren Kindern zu beschäftigen, lernen deren altersgemäße Bedürfnisse besser kennen, werden für die Signale ihrer Kinder sensibilisiert und erweitern ihr Repertoire an positiven Interaktionsmöglichkeiten.

Die Spiel-Aktivitäten von Opstapje sind so aufgebaut, dass alle wichtigen Entwicklungsbereiche der Kinder (Motorik/Feinmotorik, Kognition/Sprachentwicklung, Sozialverhalten) angesprochen und stimuliert werden.

Die Eltern werden hierbei angehalten, die Autonomie und das Selbstwirksamkeitserleben ihrer Kinder beim Lösen von Aufgaben zu unterstützen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Aufbau von sozialen Netzwerken mit den anderen teilnehmenden Familien und das Erkunden von weiteren (Unterstützungs-)Angeboten für Eltern und Kinder im Stadtviertel.

Opstapje setzt also an allen drei Ebenen an, die Resilienz fördern zu können: am Kind selbst, an den familiären Beziehungen und am sozialen Kontext.

Niedrigschwellig ist das Programm durch seine aufsuchende Struktur. Sozial kompetente und extra geschulte Hausbesucherinnen, die ebenfalls Mütter (Modelle) sind und aus dem soziokulturellen Umfeld der Zielgruppe stammen, besuchen die Familien in einem Zeitraum von 2×30 Wochen im wöchentlichen später 14-tägigen Abstand für 30-45 Minuten. Daneben finden alle 14 Tage Gruppentreffen statt.

Literatur zum Thema