Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI
Personal gab es bei meinem früheren Arbeitgeber zu dieser Zeit genug, daher konnte ich mir den Bereich nicht aussuchen. Ich übernahm also erst mal wieder eine Mutterschaftsvertretung, und zwar im Schwerbehinderten-Bereich.
Nachdem ich realisiert hatte, dass sich der Geist von einst irgendwie ziemlich verflüchtigt hatte, stürzte ich mich mit Elan in die Arbeit. Die ehemalige Heilpädagogin, die so großen Wert darauf legte, dass man die Heimbewohner zur Selbstständigkeit fördert wo es nur geht, war inzwischen im wohlverdienten Ruhestand.
Die Gruppe mit sieben Jugendlichen hatte ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Zum einen gab es sehr beobachtungsintensive Epileptiker, die medikamentös schwer einzustellen waren, zum anderen massiv Verhaltensgestörte, die viel Aufmerksamkeit verlangten. Dazwischen standen Behinderte, die im Lebenspraktischen, wie essen, waschen, an- und auskleiden, Toilettengänge usw. große Defizite hatten. Meines Erachtens wurde zu wenig Wert auf die Förderung gelegt. Da ich dies energisch zu ändern suchte, fühlte sich mein Kollegium bald etwas überfordert, was nach einer gewissen Zeit auch leichte Spannungen erzeugte.
In diese Zeit fiel zudem eine besondere Schwierigkeit: ein ca. 1,80 großer, kräftiger, hochgradig fremd- und autoaggressiver Jugendlicher mit Fluchttendenz und unvorstellbarer Zerstörungswut, kam von einem monatelangen Aufenthalt in der internen psychiatrischen Abteilung in den Gruppenalltag zurück. In der Psychiatrie wurde er nach strengen behavioristischen Grundsätzen therapiert, und uns oblag eine konsequente Fortführung des Begonnenen, d.h. beispielsweise punktgenaues Einhalten von Time-out und Fixierung nach katalogisiertem Fehlverhalten (meist Fremd- bzw. Autoaggressionen), was den Gruppenalltag massiv aus dem Gleichgewicht brachte und weibliches Personal besonders überforderte.
Dass behavioristische Methoden zu dieser Zeit so stark favorisiert waren, lag einerseits an einem Psychologen, der zu diesem Thema promoviert hatte, andererseits an dem Trend, hochdosierte Neuroleptika als Dauermedikation zu vermeiden. Außerdem schien das Erleben schwerbehinderter Menschen für andere Methoden kaum zugänglich zu sein.
Jedenfalls war in kürzester Zeit klar, weshalb dieser Junge in der Psychiatrie war und eigentlich nach wie vor dahin gehörte. Wenn er aus dem Gleichgewicht war, und das war er häufig, trug er einen hinten mit Fixierknopf verschlossenen Spezial-Overall, der aus dem gleichem Gewebe war, aus dem auch Zwangsjacken gefertigt sind, da er normale Kleidung – ritschratsch – entzwei riss. Meistens steckte auch unser weibliches Kraftpaket in so einem Overall.
Wenn er begann, beispielsweise seine Handballen blutig zu beißen, bekam er mindestens 4 mm dicke Lederfäustlinge ohne Daumen (so ähnlich), die ebenfalls mit Fixierknöpfen verschlossen werden mussten. Time-out bedeutete, dass er so ausgestattet, von Stimulationen weitgehend abgeschirmt, für max. 15 Minuten in sein Zimmer eingeschlossen wurde, was natürlich alles höchstrichterlich abgesegnet war. Einmal vergaß die Stationshilfe nach dem Putzen das Fenster zu sichern, und Uli konnte entkommen. Der Schaden, der in der folgenden Viertelstunde in der Umgebung angerichtet wurde, belief sich auf mehrere 1000 DM.
Auch das Bett war in kürzester Zeit kurz und klein. Die 10. Matratze wurde irgendwann mit LKW-Plane bezogen. Doch auch die hat er eines Tages klein gekriegt, sodass er in seiner schlimmsten Phase lediglich auf einer dicken Holzplatte schlief. Die Platte akzeptierte er, weil sein Zimmer inzwischen komplett von oben bis unten gefliest und mit einem Abfluss ausgestattet werden musste, da er den Raum in vielen Nächten systematisch an allen erreichbaren Stellen voll urinierte, sodass sich der Bodenbelag wölbte und die Tapeten von der Wand fielen, von dem Gestank ganz zu schweigen. In den Fenstern war Panzerglas. Keine Gefängniszelle ist so trist.
Ausgeglichen konnte er direkt zauberhaft sein. Er war in der Lage, sich selbstständig zu waschen und anzuziehen, mit Messer und Gabel zu essen. Er verstand uns und sprach selbst überwiegend Zweiwortsätze, allerdings nur, wenn er Lust dazu hatte. Er konnte auch Wäsche sortieren und falten und Betten beziehen, doch auch dazu fehlte ihm meist die Lust. Viel lieber saß er auf einer Matratze mit Überblick in den Gruppenraum und schaukelte leicht summend vor sich hin, während er das Geschehen um sich herum genauestens beobachtete. Wenn ihn etwas aus der Ruhe brachte, und das war leicht der Fall, musste man auf der Hut sein.
So war es auch eines Tages wieder. Unglücklicherweise war ich für mehrere Stunden allein in der Schicht, weil wir massive Ausfälle durch Krankheit hatten, ein absolutes Unding eigentlich. Glücklicherweise hatte ich die meisten Heimbewohner schon zur Mittagsruhe in ihre Betten verfrachtet, als Uli begann, sich in die Handballen zu beißen. Konsequent wie ich nun mal bin, griff ich entschlossen nach den Lederhandschuhen, nachdem ich zuvor kurz einen Kollegen auf einer Nachbargruppe anrief, er solle bitte zeitnah einmal nach mir schauen. Als ich schließlich auf ihn zuging, stürzte er unvermittelt wie ein Berserker auf mich los, packte mich, riss mich nieder, und dann erlebte ich alles in Zeitlupe, wie er nach meinem linken Unterarm griff und fest und immer fester ins Handgelenk biss. Irgendwann ließ er von mir ab. Ich glaube, ich habe nicht einmal geschrien, saß einfach wie paralysiert. Es war ein Albtraum. Bald kam der Kollege und brachte ihn in sein Zimmer.
Mein Handgelenk wurde auf der Krankenstation geschient und verbunden. Natürlich war auch eine Tetanusspritze fällig. Ein peripherer Nerv war lädiert. Erst nach drei Monaten verschwand das Taubheitsgefühl. Trotzdem war an eine Krankschreibung nicht zu denken. Ich wollte auch kein Weichei sein und mich durch so etwas unterkriegen lassen. Im Nachhinein wundert es mich heute noch, dass niemand, auch nicht die Heimleiterin, eine Psychologin, mal nachfragte, wie ich mit diesem Trauma klarkomme. Das war schließlich keine Kleinigkeit. Ich hätte mich wohl selbst rühren müssen, stattdessen rang ich in den folgenden Wochen so gut es ging aufkeimende Ängste nieder. Allerdings hatte ich meine Leichtigkeit verloren.
Weil die gespannte Atmosphäre anhielt, fiel mir die Entscheidung leicht, bis zu einer Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis eine angebotene Mutterschaftsvertretung auf einer anderen Gruppe wiederum im Schwerstbehinderten Bereich anzutreten. Auch dort gab es sehr auffällige Jugendliche, doch im Gegensatz zur vorherigen Gruppe, war dort Förderung groß geschrieben. Das lag überwiegend an dem Gruppenleiter, aus der Ära der Heilpädagogin und an der Kontinuität des Personals. Eine hohe Fluktuation der Mitarbeiter war gerade im Schwerbehinderten-Bereich sonst eher die Regel. Ich genoss es, meine Ideale verwirklicht zu sehen, auch wenn die Arbeit nicht leicht war, denn die Struktur dieser Heimgruppe hatte große Ähnlichkeit mit der vorigen.