VII – Berufliche Wege und Stationen 85-86

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V, Teil VI

Personal gab es bei meinem früheren Arbeitgeber zu dieser Zeit genug, daher konnte ich mir den Bereich nicht aussuchen. Ich übernahm also erst mal wieder eine Mutterschaftsvertretung, und zwar im Schwerbehinderten-Bereich.

Nachdem ich realisiert hatte, dass sich der Geist von einst irgendwie ziemlich verflüchtigt hatte, stürzte ich mich mit Elan in die Arbeit. Die ehemalige Heilpädagogin, die so großen Wert darauf legte, dass man die Heimbewohner zur Selbstständigkeit fördert wo es nur geht, war inzwischen im wohlverdienten Ruhestand.

Die Gruppe mit sieben Jugendlichen hatte ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Zum einen gab es sehr beobachtungsintensive Epileptiker, die medikamentös schwer einzustellen waren, zum anderen massiv Verhaltensgestörte, die viel Aufmerksamkeit verlangten. Dazwischen standen Behinderte, die im Lebenspraktischen, wie essen, waschen, an- und auskleiden, Toilettengänge usw. große Defizite hatten. Meines Erachtens wurde zu wenig Wert auf die Förderung gelegt. Da ich dies energisch zu ändern suchte, fühlte sich mein Kollegium bald etwas überfordert, was nach einer gewissen Zeit auch leichte Spannungen erzeugte.

In diese Zeit fiel zudem eine besondere Schwierigkeit: ein ca. 1,80 großer, kräftiger, hochgradig fremd- und autoaggressiver Jugendlicher mit Fluchttendenz und unvorstellbarer Zerstörungswut, kam von einem monatelangen Aufenthalt in der internen psychiatrischen Abteilung in den Gruppenalltag zurück. In der Psychiatrie wurde er nach strengen behavioristischen Grundsätzen therapiert, und uns oblag eine konsequente Fortführung des Begonnenen, d.h. beispielsweise punktgenaues Einhalten von Time-out und Fixierung nach katalogisiertem Fehlverhalten (meist Fremd- bzw. Autoaggressionen), was den Gruppenalltag massiv aus dem Gleichgewicht brachte und weibliches Personal besonders überforderte.

Dass behavioristische Methoden zu dieser Zeit so stark favorisiert waren, lag einerseits an einem Psychologen, der zu diesem Thema promoviert hatte, andererseits an dem Trend, hochdosierte Neuroleptika als Dauermedikation zu vermeiden. Außerdem schien das Erleben schwerbehinderter Menschen für andere Methoden kaum zugänglich zu sein.

Jedenfalls war in kürzester Zeit klar, weshalb dieser Junge in der Psychiatrie war und eigentlich nach wie vor dahin gehörte. Wenn er aus dem Gleichgewicht war, und das war er häufig, trug er einen hinten mit Fixierknopf verschlossenen Spezial-Overall, der aus dem gleichem Gewebe war, aus dem auch Zwangsjacken gefertigt sind, da er normale Kleidung – ritschratsch – entzwei riss. Meistens steckte auch unser weibliches Kraftpaket in so einem Overall.

Wenn er begann, beispielsweise seine Handballen blutig zu beißen, bekam er mindestens 4 mm dicke Lederfäustlinge ohne Daumen (so ähnlich), die ebenfalls mit Fixierknöpfen verschlossen werden mussten. Time-out bedeutete, dass er so ausgestattet, von Stimulationen weitgehend abgeschirmt, für max. 15 Minuten in sein Zimmer eingeschlossen wurde, was natürlich alles höchstrichterlich abgesegnet war. Einmal vergaß die Stationshilfe nach dem Putzen das Fenster zu sichern, und Uli konnte entkommen. Der Schaden, der in der folgenden Viertelstunde in der Umgebung angerichtet wurde, belief sich auf mehrere 1000 DM.

Auch das Bett war in kürzester Zeit kurz und klein. Die 10. Matratze wurde irgendwann mit LKW-Plane bezogen. Doch auch die hat er eines Tages klein gekriegt, sodass er in seiner schlimmsten Phase lediglich auf einer dicken Holzplatte schlief. Die Platte akzeptierte er, weil sein Zimmer inzwischen komplett von oben bis unten gefliest und mit einem Abfluss ausgestattet werden musste, da er den Raum in vielen Nächten systematisch an allen erreichbaren Stellen voll urinierte, sodass sich der Bodenbelag wölbte und die Tapeten von der Wand fielen, von dem Gestank ganz zu schweigen. In den Fenstern war Panzerglas. Keine Gefängniszelle ist so trist.

Ausgeglichen konnte er direkt zauberhaft sein. Er war in der Lage, sich selbstständig zu waschen und anzuziehen, mit Messer und Gabel zu essen. Er verstand uns und sprach selbst überwiegend Zweiwortsätze, allerdings nur, wenn er Lust dazu hatte. Er konnte auch Wäsche sortieren und falten und Betten beziehen, doch auch dazu fehlte ihm meist die Lust. Viel lieber saß er auf einer Matratze mit Überblick in den Gruppenraum und schaukelte leicht summend vor sich hin, während er das Geschehen um sich herum genauestens beobachtete. Wenn ihn etwas aus der Ruhe brachte, und das war leicht der Fall, musste man auf der Hut sein.

So war es auch eines Tages wieder. Unglücklicherweise war ich für mehrere Stunden allein in der Schicht, weil wir massive Ausfälle durch Krankheit hatten, ein absolutes Unding eigentlich. Glücklicherweise hatte ich die meisten Heimbewohner schon zur Mittagsruhe in ihre Betten verfrachtet, als Uli begann, sich in die Handballen zu beißen. Konsequent wie ich nun mal bin, griff ich entschlossen nach den Lederhandschuhen, nachdem ich zuvor kurz einen Kollegen auf einer Nachbargruppe anrief, er solle bitte zeitnah einmal nach mir schauen. Als ich schließlich auf ihn zuging, stürzte er unvermittelt wie ein Berserker auf mich los, packte mich, riss mich nieder, und dann erlebte ich alles in Zeitlupe, wie er nach meinem linken Unterarm griff und fest und immer fester ins Handgelenk biss. Irgendwann ließ er von mir ab. Ich glaube, ich habe nicht einmal geschrien, saß einfach wie paralysiert. Es war ein Albtraum. Bald kam der Kollege und brachte ihn in sein Zimmer.

Mein Handgelenk wurde auf der Krankenstation geschient und verbunden. Natürlich war auch eine Tetanusspritze fällig. Ein peripherer Nerv war lädiert. Erst nach drei Monaten verschwand das Taubheitsgefühl. Trotzdem war an eine Krankschreibung nicht zu denken. Ich wollte auch kein Weichei sein und mich durch so etwas unterkriegen lassen. Im Nachhinein wundert es mich heute noch, dass niemand, auch nicht die Heimleiterin, eine Psychologin, mal nachfragte, wie ich mit diesem Trauma klarkomme. Das war schließlich keine Kleinigkeit. Ich hätte mich wohl selbst rühren müssen, stattdessen rang ich in den folgenden Wochen so gut es ging aufkeimende Ängste nieder. Allerdings hatte ich meine Leichtigkeit verloren.

Weil die gespannte Atmosphäre anhielt, fiel mir die Entscheidung leicht, bis zu einer Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis eine angebotene Mutterschaftsvertretung auf einer anderen Gruppe wiederum im Schwerstbehinderten Bereich anzutreten. Auch dort gab es sehr auffällige Jugendliche, doch im Gegensatz zur vorherigen Gruppe, war dort Förderung groß geschrieben. Das lag überwiegend an dem Gruppenleiter, aus der Ära der Heilpädagogin und an der Kontinuität des Personals. Eine hohe Fluktuation der Mitarbeiter war gerade im Schwerbehinderten-Bereich sonst eher die Regel. Ich genoss es, meine Ideale verwirklicht zu sehen, auch wenn die Arbeit nicht leicht war, denn die Struktur dieser Heimgruppe hatte große Ähnlichkeit mit der vorigen.

Fortsetzung

VI – Berufliche Wege und Stationen 81-85

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV, Teil V

Ich wollte auf jeden Fall etwas für meine Bildung tun. Also eruierte ich, was es so an einjährigen Ausbildungen gab. Auf dem Gesundheitssektor (vielleicht etwas weit ausgelegt) reizte mich Biokosmetik, und zwar an einer Schule, die besonderen Wert auf den theoretischen Unterbau legt. Ich hatte richtig Lust, mal wieder die Schulbank zu drücken und beispielsweise Anatomie und Physiologie zu lernen, sicher auch deshalb weil mir das so leicht fällt. Irgendwie habe ich da ein Programm in meinem Hirnkästchen vorinstalliert, denn obwohl ich nie Latein und Griechisch hatte, vergesse ich selten die korrekten Bezeichnungen und Zusammenhänge. Schon während der Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin glänzte ich in den Fächern Medizin und Neurologie. Zum anderen hatte ich auch einen starken inhaltlichen Bezug. Um in kürzester Zeit zu entspannen, betrieb ich nämlich die ganzen Jahre, nennen wir es, Instant-Wellness. Ich hatte eine ganzes Arsenal an Schaum- und Aromabädern, Lotions und Elixieren, Gesichtsmasken, Cremes, und und und, war also gern gesehener Gast in unserer Parfümerie.

Das Jahr an dieser Schule flog nur so dahin. Sämtliche schriftlichen und praktischen Prüfungen legte ich mit Bravour ab*, sodass der damalige Schulleiter, anstatt am Ende die mündliche Prüfung abzunehmen, mir eine Teilzeitbeschäftigung als Dozentin anbot. Sehr geschmeichelt, entschied ich mich trotzdem dagegen, da ich schon eine Praxisstelle hatte. Nur zweimal habe ich Unterrichtsvertretung gemacht und auch das dann ganz schnell beendet. Die Vermittlung der Praxis fiel mir zwar leicht, aber bei der Theorievermittlung bemerkte ich auf einmal ein gravierendes Defizit. Als ich nämlich den Begriff Desoxiribonukleinsäure in einen schwäbischen Satz einbauen wollte, war klar, das ging irgendwie gar nicht. Reines – naja fast – Hochdeutsch habe ich nämlich erst mit 37 Jahren zu sprechen begonnen, als ich nach Hamburg zog. Bis dahin war Hochdeutsch für mich Arbeiterkind eine affige Fremdsprache. Auch während meiner Schulzeit wurde wie selbstverständlich Dialekt gesprochen. Und mit dem sogenannten Akademiker-Schwäbisch war ich sowieso nicht vertraut. Dabei hätte ich wenigstens das für diesen Job gut gebrauchen können.

Während dem Berufspraktikum arbeitete ich im Kosmetiksalon einer ehemaligen Schülerin. Die Arbeit in der Kabine machte mir viel Freude. Ganz meiner vorherigen Profession getreu, lag mir viel daran, das Vertrauen vor allem junger Klienten mit Akne zu gewinnen, denn das ist bei diesem Problem schon mal die halbe Miete. Da der Salon in dem kleinen Ort zu wenig abwarf, war die Inhaberin leider gezwungen, ihr Geschäft aufzugeben.

Aus dieser Zeit ist mir ein Tag, an dem ich zwei gleichaltrige Kundinnen hintereinander auf der Kosmetikliege hatte, ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Kunden trug einen blauen Faltenrock und eine weiße hochgeschlossene Bluse. Die akurate Haarspray-Frisur war dunkel gefärbt und wie geleckt, die Gesichtshaut beneidenswert glatt, und das mit Ende 50! Gleich im Anschluss kam die andere Kundin im legeren Freizeitlook. Sie hatte wild gelocktes, graumeliertes Haar und ein Faltenrelief, dem man Gelebtes, Lachen und Leiden ansehen konnte. Dreimal dürfen Sie raten, welche Frau jünger aussah.

Mehr aus persönlicherem Interesse besuchte ich in dieser Zeit dann noch das Seminar ‚Heilkräuter-Essenz-Therapie‘, ein sinnliches Behandlungskonzept mit ätherischen Ölen, das der Schulleiter zusammen mit seiner damaligen Frau entwickelt hat, bevor er esoterisch abhob.

Ich wechselte also den Salon. Dort wurde ich unglücklicherweise überwiegend in der Verkaufsberatung eingesetzt, was nicht so mein Ding war, und ich vermisste die regelmäßige Arbeit in der Kabine sehr. Zudem ließ die finanzielle Lage des Geschäftes nur Teilzeitbeschäftigung zu. Daraufhin erwog ich nur kurz, mich selbstständig zu machen und verwarf die Idee mangels Rentabilität. Erneut fand ich eine Teilzeitstelle in einem sehr altertümlichen Kosmetiksalon. Die ebenfalls altertümliche Chefin stellte mir in Aussicht, eines Tages ihr Geschäft zu übernehmen. Bald wurde mir jedoch klar, dass man diese Frau mit den Füßen voran hinaus tragen muss, bevor es Platz für eine Nachfolgerin gibt. Also strebte ich den Wiedereinstieg als Heilerziehungspflegerin an.

*In meinem Abschlusszeugnis steht unter anderem: Frau Faust hat außerordentliche Fähigkeiten, den Beruf der Kosmetikerin mit viel Liebe und Geschick auszuüben. Durch Ihre schnelle Beobachtungs- und Auffassungsgabe führt sie jede Behandlung mit großem Erfolg durch. Gründlichkeit, Fleiß und eine hervorragende Begabung für ganzheitliches lebendiges Denken brachten Frau Faust ausgezeichnete Leistungen in den theoretischen Fächern ein. Ihr Fachwissen steht den praktischen Fähigkeiten in nichts nach, sondern ergänzt das Bild ihrer Begabung.

Fortsetzung

V – Berufliche Wege und Stationen 80-81

Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV

Die Einrichtung erweiterte sich um ein Berufsbildungswerk in Ravensburg. Da dort drei unserer Jungs ihre Berufsausbildung in Angriff nehmen sollten und mich der Pioniergeist der ersten Stunde reizte, bewarb ich mich intern für die Betreuung im angeschlossenen Internat. Die drei Kandidaten kamen allerdings in ein Außenwohnheim nach Friedrichshafen, da man dort auf solche Fälle (schwieriges Verhalten aber sehr fit in der Birne) spezialisiert war. Nur leider hatten die zu jener Zeit gerade keinen Personalbedarf.

Bis die Bauarbeiten im Internat abgeschlossen waren, übernahm ich eine kurze Mutterschaftsvertretung in einem Außenwohnheim in einer riesigen wunderschönen Jugendstilvilla bei zwölf jugendlichen Mädchen in der Berufsausbildung. Da hat es mir so gut gefallen, dass ich am liebsten ganz geblieben wäre.

Im nun fertig gestellten Internat war ich zusammen mit einem strafversetzten Sonderschullehrer, der zwar ein Alkoholproblem (nach Feierabend) aber auch ein großes Herz am rechten Fleck hatte, und einem Maschinenschlosser mit pädagogischem Talent für die Betreuung von zwölf männlichen Jugendlichen zuständig. Diese waren in zwei Wohngruppen, von insgesamt 2 × 5 Internatsgruppen, untergebracht; eine davon jeweils für Jugendliche aus verschiedenen Heimen, die andere jeweils für externe Jugendliche mit Wochenendaufenthalt im Elternhaus.

Die größte Herausforderung war gerade diese Struktur, da den Bewohnern der Heimjugendgruppe durch die Gegenwart der privilegierten Nachbargruppe ständig ihre Heim-Biografie vor Augen geführt wurde. Nahrung erhielt ihr eifersüchtiger Argwohn auch durch die Tatsache, dass nur ein Erzieher pro Schicht für alle zuständig war. Es war nur ansatzweise möglich, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern. Ich war in beiden Gruppen anerkannt und beliebt und für einige durch intensive Einzelgespräche bald zentrale Vertrauensperson. Hauptaufgaben waren die Anregung zu sinnvoller Freizeitgestaltung, die Betreuung der Wochenberichte und die Kooperation mit den Ausbildern, was mir neben der Arbeit mit den Auszubildenden am meisten Spaß gemacht hat. Die Bewohner sollten zudem lernen, mit dem zur Verfügung stehenden Geld zu wirtschaften, einfache Gerichte zu kochen und anfallende Dienste zu organisieren und zu erledigen, damit es z.B. nicht so aussieht.

Symbolbild

Im achten Jahr als Erzieherin, regte sich bei mir eines Tages ein ununterdrückbarer Wunsch nach beruflicher Veränderung, und zwar in Richtung Psychologie. Ich wollte mich, auf meine bisherige Qualifikation aufbauend, zur Psychagogin ausbilden lassen. Zu diesem Veränderungswunsch führte sicherlich auch die traurige Statistik des Internats: ein brutaler Suizid und vier Versuche (darunter ein externer Jugendlicher meiner Gruppe bei einem Wochenendaufenthalt zuhause*). Leider hatten sich die Zugangsbestimmungen verändert, und zum ersten Mal bedauerte ich sehr, dass ich mangels Abitur nicht einfach studieren konnte. Der Veränderungsgedanke blieb jedoch hartnäckig und ich stellte fest, dass ein so genanntes Sabbatjahr jetzt nicht ungelegen käme. Aus einem wurden fast vier, die ich nicht untätig war.

*Die Verbindung zu ihm ist nie ganz abgebrochen. Ich war beispielsweise Jahre später zu seiner Hochzeit eingeladen und bekomme bis zum heutigen Tag regelmäßig Anrufe von ihm. Inzwischen ist er glücklicher Großvater, und bei jedem Telefonat ist er dankbar dafür, dass es mich in seinem Leben gab.

Fortsetzung

IV – Berufliche Wege und Stationen 77-80

Teil I, Teil II, Teil III

Das Ergebnis der Umverlegung war eine einigermaßen homogene Gruppe mit sieben lernbehinderten männlichen Jugendlichen, in der ich mein staatliches Anerkennungsjahr absolvierte. Mit mir waren zwei weitere Heilerziehungspfleger im Anerkennungsjahr und eine Kinderpflegerin für die Betreuung zuständig. Passend zum damaligen Zeitgeist einerseits, andererseits durch die dünne Personaldecke im mittleren Management, gab es bei dieser neuen Gruppe keine Hierarchie mehr. Wir teilten uns die Führung – quasi im Modellversuch, indem jeder seine festen Verantwortungsbereiche, möglichst nach Neigung, hatte.

Ich war beispielsweise für die medizinische Betreuung zuständig, d.h. für die kontinuierliche Berichtführung und enge Zusammenarbeit mit Ärzten und dem Kinder- und Jugendpsychiater, sowie für Medikamente und Verbandsmaterial. Und weil ich überraschend gut mit der Beißzange aus dem Kleiderlager klarkam, habe ich mir auch diese Aufgabe aufs Auge drücken lassen und sorgte also für die laufende Ergänzung der Kleiderbestände. Dienstplanerstellung identifizierten wir dagegen als eher vermintes Gebiet mit Konfliktpotenzial. Daher wechselten wir uns da alle drei Monate ab. Weil ich an diesem Konzept maßgeblich beteiligt und auch stolz darauf war, widmete ich meine Kolloquiumsarbeit dem Thema: „Führen im Team“.

In der pädagogischen Arbeit war mein besonderes Anliegen die Hausaufgabenbetreuung, da sich drei Jugendliche den Hauptschulabschluss vorgenommen hatten, was bis dahin in dieser Einrichtung einzigartig war. Einer hat später sogar die mittlere Reife in Angriff genommen und geschafft. Darüber hinaus waren meine Stärken vor allem das vertrauliche Gespräch mit einzelnen und kleinen Gruppen und das Gestalten festlicher Höhepunkte und Ferienfreizeiten.


Das bin ich nach meinem Sieg gegen einen Kollegen in einer Art Fischerstechen bei einem total wilden Feriencamp ohne fließend Wasser, wenn man einmal von der Donau absieht.

Sportliche Aktivitäten waren in so einer Jungsgruppe natürlich an der Tagesordnung. Wenn Not am Mann war, musstedurfte ich schon mal in der Abwehr mitspielen.

Zudem engagierte ich mich bei gruppenübergreifenden Praxistreffen, da sich die Interaktionen der Heimbewohner, auch die unguten, natürlich nicht auf die eigene Gruppe beschränkten. In dieser Runde wurden auch legendäre Ferienfreizeiten und Feste organisiert, wie schon angedeutet, eine Domäne von mir. Nach diversen Rhythmik-Lehrgängen und einer Fortbildung in „Musik und Bewegung“ konnte ich beispielsweise meine großen Jungs für ein Hausfest dazu bewegen, einen gespenstischen Ausdruckstanz zu Time von Pink Floyd einzustudieren. Im Nachhinein kommt es mir immer noch vor wie ein Wunder vor, besonders wenn man sich vor Augen führt, dass da richtige Klopper dabei waren.

Ein paar Randprobleme wie Streunen, Brandstiftungen (genau genommen beherbergten wir einen Feuerteufel, wie Jahre später ermittelt wurde), Diebstähle, Sadismus und Vergewaltigung, können das sicherlich belegen. Glücklicherweise ist dabei nicht das Kind entstanden, von dem in der letzten Fortsetzung die Rede war. Das war die Frucht einer, wenn auch sehr einseitigen Liebe. Daher war der Vater auch nicht schwer zu identifizieren. Der „Fall“ wurde uns nach Bekanntwerden natürlich sofort von höchster Stelle entzogen. Obwohl die werdende junge Mutter schwere Epileptikerin war und bis zur Entdeckung der Rundung unter entsprechend starker Medikation stand, war Abtreibung natürlich eine undenkbare Option. Das Mädchen wurde umgehend in eine Einrichtung für jugendliche Mütter verfrachtet und das Kind nach der Geburt zur Adoption freigegeben.

Fortsetzung

III – Berufliche Wege und Stationen 76-77

Teil I, Teil II

Die Veränderung war ganz schön drastisch. Obwohl ich noch in der Ausbildung war, sollte ich gleich als tragendes Teammitglied eine Gruppe lernbehinderter Mädchen und Jungen mitbetreuen. Meine Durchsetzungsgabe, die bisher nicht allzu stark gefragt war, erleichterte mir den Einstieg in diese wesentlich dynamischere Arbeit. Diesbezüglich sollte ich schon früh die Gelegenheit zu einem recht unorthodoxen Einstieg bekommen.

Ein 14-jähriges Mädchen wurde mir von den Mitarbeitern gleich zu Beginn als notorisch provozierender Satansbraten vorgestellt. Und tatsächlich gab es ziemlich bald einen heftigen Konflikt. Worum es dabei ging, weiß ich gar nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass der Tisch fürs Abendessen fast gedeckt war, als Petra mal wieder übellaunig aus dem Stand Stress machte. Sie beschimpfte mich im Laufe der Auseinandersetzung lautstark und spukte mir zur Krönung mitten ins Gesicht. Daraufhin ergriff ich reflexartig die Scheibe Kalbsleberwurst und drückte sie ihr wortlos ebenfalls mitten ins Gesicht.

Sie schaute verdutzt und war sprachlos. Das war natürlich alles andere als pädagogisch wertvoll – bitte ja nicht nachmachen – aber es wirkte irgendwie. Jedenfalls habe ich mich später bei ihr entschuldigt, und wir wurden noch ziemlich gute Freunde. Sie nannte mich oft liebevoll ihr ‚Fäustchen’.

Erziehungsziele in dieser Gruppe waren – fachjargonmäßig ausgedrückt – möglichst weitgehende Verselbstständigung mit gleichzeitiger Entwicklung von Verantwortungsbewusstsein und Eigeninitiative, angemessenem Sozialverhalten, Freizeitgestaltung und Förderung der Leistungsbereitschaft.

Eine besondere Herausforderung war der unterschiedliche geistige Horizont der Kinder und zunehmend der fortgeschrittene körperliche Entwicklungsstand einzelner mit der entsprechenden Hormonlage. Dazu muss man wissen, dass in einer katholischen Einrichtung eine heterogene Gruppe Pubertierender undenkbar war. Und nach den ersten „Zwischenfällen“ wurde von der Leitung schleunigst eine Umverlegung der pubertierenden Jungs angestrengt, was allerdings, wenn ich schnell vorgreifen darf, nicht zur Kontrolle und Unterbindung aller Aktivitäten rund um die Uhr führte, denn bald kam es trotzdem zu einer Schwangerschaft.

Fortsetzung

II – Berufliche Wege und Stationen 74-76

Teil I

Nach dem Vorpraktikum hätte ich die Ausbildung eigentlich in zwei Jahren Vollzeit-Unterricht absolvieren können. Doch da war ich schon so nachhaltig von dem Pioniergeist angesteckt, dass ich mich kurzerhand entschloss, die Ausbildung berufsbegleitend zu absolvieren, obwohl dies ein zusätzliches Ausbildungsjahr bedeutete. (3 Jahre zweimal wöchentlich Unterricht in der Fachschule für Heilerziehungspflege am Institut für soziale Berufe)

Wie bereits erwähnt, gab es weitreichende Veränderungen: der gesamte Kinder- und Jugendbereich wurde in ein komplett neu erbautes Kinderdorf nach Hegenberg umgesiedelt. Das bedeutete: kleinere Wohngruppen, die diese Bezeichnung auch verdientem, mehr Personal, vor allem junge Menschen, da sich die Einrichtung als Ausbildungsbetrieb etablierte und mehr Fachpersonal wie Heilpädagogen, Psychologen und Sozialpädagogen.


Personalwohnheim – in einem dieser Legosteinchen habe ich gewohnt

Mein neues Einsatzgebiet war eine Wohngruppe im Schwerbehindertenbereich mit acht mehrfach behinderten Jungen und Mädchen. Durch die zum Teil erheblichen körperlichen Behinderungen war der Tagesablauf stark durch die intensive Pflege bestimmt. Trotzdem ermutigte uns die charismatische Heilpädagogin, sogar sogenannte Pflegefälle nicht als solche anzusehen. Täglich drehte sie ihre Runden durch alle Wohngruppen und fragte, was wir heute mit den Bewohnern zu machen gedenken oder schon gemacht haben. Im Dienstzimmer zu sitzen, sei es auch nur zum Berichte schreiben, war absolut verpönt. Da konnte es schon einmal vorkommen, dass sie beim Betreten der Wohngruppe die Stimme erhob: Wo siiind dänn die Ärrziiiääärrr? Wos mochen Sie mit Kiiindääärrr? Ihr ungarischer Akzent war einfach zauberhaft.

Überzeugt davon, dass auch diese stark beeinträchtigten Kinder noch lernfähig bzw. ihre kognitiven Fähigkeiten zu fördern sind, hat sie uns sehr motiviert, und tatsächlich geschahen kleine Wunder. Ein schwerst pflegebedürftiger körperlich und geistig behinderter Junge beispielsweise, lernte in Zusammenarbeit mit dem Krankengymnasten selbstständig zu greifen und zu essen. Trotzdem gab es wirklich auch Bewohner, die eher wie Pflanzen lebten bzw. litten. Mental war das eine ziemliche Herausforderung. Welchen Sinn hat so ein Leben überhaupt, war eine Frage, die mich häufig bewegte. Damals glaubte ich noch, dass diese Art der Existenz irgendeinen Sinn haben MUSS. Und so keimte irgendwann auch die Idee von Karma und Reinkarnation. Heute bin ich eher davon überzeugt, dass es keinen Sinn hat und einfach so ist.

Mein Selbstverständnis als werdende Heilerziehungspflegerin entwickelte sich also zunehmend weg von der anfänglich betont pflegerischen Auffassung, hin zu dem ebenso wichtigen pädagogischen Auftrag in diesem Beruf. Insgesamt befriedigte mich diese Arbeit sehr, und ich fühlte mich in diesem Bereich richtig wohl. Trotzdem musste ich im Zuge der Ausbildung spätestens nach zwei Jahren schweren Herzens die Praxisstelle wechseln.

Fortsetzung

I – Berufliche Wege und Stationen 73-74

Die Falkin hat mich kürzlich auf mein Profil bei Twitter angesprochen. Da steht: „Spät berufene nicht ausübende Diplompsychologin mit ganz normalen Macken.“ Für die Beantwortung ihrer Frage, wann und wie ich zur Psychologie gekommen bin, muss ich ziemlich weit zurück. Ich werde daher in Fortsetzungen schreiben und hoffe, dass das meine geschätzten Leser nicht langweilt. Aber erwarten Sie bitte nichts Spektakuläres.

Nachdem also der Wechsel von der Privatschule auf das öffentliche Gymnasium ziemlich traumatisch war und mich noch Jahrzehnte immer wieder in Albträumen verfolgte, regte sich in mir das Verlangen nach einer sinnvollen Betätigung, so nach dem Motto – wenn schon Ernst des Lebens, dann richtig! Bereits als Kind interessierten mich Pädagogik und Medizin, als Jugendliche v.a. durch Kontakte zu Heroin- und Morphiumabhängigen auch Psychologie und Psychiatrie. Dieser Zug war allerdings erst einmal abgefahren. Wie es aber der Zufall wollte, kam just in dieser Orientierungsphase eine interessante Sendung über Heilpädagogik, und ich auf die Idee, künftig mit behinderten Menschen arbeiten zu wollen. Ausgestattet mit Mittlerer Reife strebte ich nun wenigstens den Beruf der Heilerziehungspflegerin an.

Die Zeit bis zum offiziellen Vorpraktikum überbrückte ich als Kindermädchen in einem Privathaushalt auf einem Traumgrundstück am See. Diese Tätigkeit beinhaltete indessen nur vordergründig die Betreuung eines Säuglings, vielmehr wurde mir unausgesprochen die Aufsicht über die psychisch instabile, niedergeschlagen ängstliche Mutter nach einer Schwangerschaftspsychose mit Heimweh nach Schweden zugemutet. Es gab eigentlich nicht wirklich viel mehr zu tun, als ab und zu das Baby zu füttern, zu wickeln und zu bespaßen, einzukaufen, ein bisschen zu kochen bzw. beim Kochen zu assistieren und Zank-Patience zu spielen. Denn das hat mir die Kindsmutter beigebracht. Aber ohne konkrete Informationen und Auftrag und mit 17 Jahren irgendwie überfrachtet, reagierte ich selbst zunehmend nervös und war froh, dass das Beschäftigungsverhältnis befristet war. Trotzdem verstärkte diese Episode eher eine Faszination für solche Phänomene.

Danach absolvierte ich das Vorpraktikum zur Ausbildung als Heilerziehungspflegerin in der größten Einrichtung für Behinderte in Oberschwaben, der Stiftung Liebenau. Die ersten sechs Monate war ich im alten Schloss bei einer Gruppe mit 16 lern- und geistig behinderten jugendlichen Mädchen eingesetzt.

Mit 17 Jahren nahezu gleichaltrig, wurde ich von den vertrockneten Fräuleins – Typ Nonne ohne Tracht aber mit weißer Kittelschürze – in eine hellgrüne ebensolche gesteckt und meist zur Mithilfe bei der Putzarbeit abkommandiert. So fühlte ich mich ziemlich bald sowohl unter- als auch überfordert. Mein jugendlicher Idealismus hatte nicht viel Raum, und mein pädagogischer Ansatz beschränkte sich mit Malen und Singen vor allem auf den musischen Bereich. Trotz Beliebtheit bei den Mädchen, betrieb ich schleunigst die Versetzung in einen adäquateren Bereich.

Die folgenden sechs Monate war mein Einsatzgebiet bei zehn schwerstbehinderten Kindern und Jugendlichen mit starken Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen, Autoaggressionen und Autismus. Diese waren auf einer Station zusammen mit acht etwas weniger schwer behinderten jungen Frauen untergebracht, die sich allerdings überwiegend in ihrem eigenen großen Schlafsaal aufhielten, auch zum Essen. Die Station war unter eiserner Führung einer Ordensschwester entsprechend rigide strukturiert. Hauptaugenmerk lag auf Ordnung, Sauberkeit und einem klaren Tagesablauf.

Allein mein erster olfaktorischer Eindruck, eine Mischung aus Desinfektionsmittel, Tee und Fäkalien, war schockierend. Zudem waren einige Behinderte erschreckend hässlich und extrem unappetitlich. Es gab insgesamt nur zwei Schlafsäle mit Eisenbetten, eine kleine Küche, einen ziemlich kleinen Speisesaal, einen mehr als dürftig ausgestatteten Sanitärbereich und einen vergitterten Balkon. Daher fand das Leben teilweise auf dem breiten Flur statt, einem düsteren Anstaltsbereich, wie man ihn vielleicht aus Filmen kennt. Ungefähr so.

Gezielte Förderung und Freizeitbeschäftigung gab es nicht. Wenn überhaupt ein Angebot bestand, dann der obligatorische Spaziergang mit denen, die darauf gedrillt waren. „Pädagogische Maßnahmen“ wurden mit Zwangsjacke und Fixiergurt durchgeführt. Ich war bestürzt und sah mich gezwungen, meine Entscheidung gründlich zu überdenken. In diesen sechs Monaten habe ich zwölf Kilo Kummerspeck zugelegt. Glücklicherweise begann eine unglaublich fähige Heilpädagogin aus Ungarn ihr Werk in Hinblick auf eine völlige Umstrukturierung, sowohl konzeptionell als auch räumlich. Die „Wärterära“ ging zumindest im Kinder- und Jugendbereich zu Ende, was sich sehr segensreich auf meine anschließende Ausbildung (sowie auf mein Gewicht) auswirken sollte.

Fortsetzung