Sexualität ist ein Bereich unseres Lebens, der erst seit etwa zweihundert Jahren so genannt wird. Er unterliegt einer ständigen gesellschaftlichen und kulturellen Umgestaltung und es wird seither von Wissenschaftlern gefragt, was an unserer Sexualität natürlich und ursprünglich und was unnatürlich und konstruiert sei. Wissenschaftler untersuchen auch, was von den Menschen im Laufe der Zeit mit anderen Bedeutungen und Bewertungen versehen wurde. So löste KINSEY beispielsweise 1953, also noch vor der sexuellen Revolution, mit seinem Bericht über weit verbreitete Sexualpraktiken Schockwellen der Empörung aus.
Die neosexuelle Revolution
Veränderungen betreffen aber nicht nur die sexuelle Sphäre. „Wir essen, sehen, hören, wohnen, arbeiten, lieben, leiden und sterben heute anders.“ (SIGUSCH, 2005, S.27) Aber unverändert geht es in unserer westlichen Kultur vorrangig um die materielle Befriedigung von „Gier und Neugier“, die jederzeit neu entfacht werden können. (S.28) Von Love Parades und Raver Partys, Telefon- und Cybersex, über Potenzsteigerung mit Viagra und Penisprothesen, bis hin zur Transsexualität gibt es heute eine Fülle neuer Lebensweisen und sexueller Praktiken. Der kritische Sexualforscher VOLKMAR SIGUSCH nennt sie Neosexualitäten und die eher langsam und leise verlaufende, aber trotzdem enorme Umgestaltung der Sexualität die „neosexuelle Revolution“. In der Vorsilbe ‚neo’ soll gleichzeitig das Rückwärtsgewandte dieses Prozesses anklingen. Neue Freiräume installieren seiner Ansicht nach zugleich neue Zwänge. Die Auswirkungen dieser Revolution sind möglicherweise einschneidender als die der lauten sexuellen Revolution der 68er. (S.7)
Neue Freiräume, neue Fragmente, neue Formen
Die entstandenen sexuellen Freiräume waren noch nie so groß und vielgestaltig wie heute. Aber zugleich ist unser Sexualleben bei aller „Buntscheckigkeit“, die uns in den Medien präsentiert wird, entmystifiziert und geradezu banalisiert worden, und ein Ende der Kommerzialisierung ist nicht in Sicht. SIGUSCH trennt diese Entwicklung nicht von der ökonomischen Situation der reichen westlichen Gesellschaften und sieht die Sexualität genauso den Mechanismen des Kapitalismus unterworfen. Die scheinbare Einheit Sexualität wird zerlegt und neu zusammengesetzt; und neue Bedürfnisse werden wieder vermarktet.
Es treten Dimensionen, Intimbeziehungen, Präferenzen und Fragmente hervor, die bisher keinen Namen hatten oder gar nicht existierten. So entstehen „neue Sexual-, Intim- und Geschlechtsformen, die sich den alten Ängsten, Vorurteilen und Theorien entziehen.“ (S.7) Davon profitieren vor allem Personen, die noch vor nicht allzu langer Zeit als „abnorm, krank, pervers und moralisch verkommen“ angesehen wurden. Heute ist der Transsexualismus ein anerkanntes Neogeschlecht; Fetischismus und Sadomasochismus gelten nicht mehr grundsätzlich als krank; Homosexuelle können heiraten und Heterosexuelle unterschiedlichste Beziehungsformen wählen, ohne damit aus dem Rahmen zu fallen. Sogar der an sexuellen Lüsten Desinteressierte kann sich heute als asexuell ‚outen’, was allerdings noch nicht sehr verbreitet ist, denn gerade Frauen sind nach ihrer Resexualisierung gewissermaßen „orgasmuspflichtig“. (S.28) Aber gerade das allgegenwärtige mediale Diktat zur sexuellen Lust und dem Orgasmus als Nachweis könnte zu diesem neuen Trend der Totalverweigerung führen.
Auch viele Beziehungen sind geprägt von sexueller Langeweile. Die Diskrepanz zwischen einer übersexualisierten äußeren Welt und einer eher kargen sexuellen Praxis der Menschen wird augenfällig. (SCHMIDT, 1998, S.23) In Zukunft, so prognostiziert SCHMIDT 1998, wird Sexualität in den uns bisher vertrauten Erscheinungsformen noch mehr an Bedeutung verlieren. Praktiziert wird Techno-Sex, Designer-Sex, Lean-Sex, Telefon-Sex. Menschen outen sich als ambi-, multi-, poly- und nonsexuell. Das Primat der Heterosexualität verschwindet, und die Monosexualität wird durch eine Vielzahl sexueller Orientierungen ersetzt. Alles scheint möglich, wenn zwei Menschen sich darauf einigen können, denn Sexualität unterliegt inzwischen, so seine These, einer Verhandlungsmoral. (S.11)
Die zugrunde liegenden Prozesse
Sexualität ist also nicht mehr „die große Metapher des Rausches, des Höhepunktes, der Revolution, des Fortschritts und des Glücks.“ (SIGUSCH, 2005, S.8) Sie wird nicht mehr so stark überschätzt wie zur Zeit der sexuellen Revolution und ist eher eine allgemeine Selbstverständlichkeit geworden. SIGUSCH und SCHMIDT sind sogar der Auffassung, dass die heutige Sexualität eher negativ mystifiziert ist, „als Ungleichheit der Geschlechter, als Gewalt, Missbrauch und tödliche Infektion.“ (zit. n. SCHMIDT, 1998, S.4) Aus der Unzahl der miteinander vernetzten Prozesse, die Neosexualitäten hervorbringen, greift SIGUSCH drei heraus: die „Dissoziation der sexuellen Sphäre“, die „Dispersion der sexuellen Fragmente“ und die „Diversifikation der sexuellen Beziehungen“.
Gliederung und Zergliederung der sexuellen Sphäre
„Bestand die alte Sexualität vor allem aus Trieb, Orgasmus und dem heterosexuellen Paar, bestehen die Neosexualitäten vor allem aus Geschlechterdifferenz, Selbstliebe, Thrills und Prothetisierungen.“ (S.30)
Die Sexualität entfernt sich immer mehr von ihren sozialen und biologischen Wurzeln. So hat sich im Zeitalter von Empfängnisverhütung, über künstliche Befruchtung bis hin zur Möglichkeit geklonter Embryos die „reproduktive Sphäre“ von der sexuellen getrennt. (ebd.)
Als Folge davon spaltete sich die sexuelle von der „geschlechtlichen Sphäre“. Darunter versteht SIGUSCH vor allem die „diskursive Abtrennung und Überhöhung“ des Geschlechtlichen im Sinne von Gender, also Geschlechterdifferenz, Geschlechtsrollenverhalten, Geschlechtsidentität usw. (zit. n. SCHMIDT, 1998, S.5), welche vorrangig vom „politischen und wissenschaftlichen Feminismus“ angestoßen wurde. (SIGUSCH, 2005, S.135).
Durch eine weitere Spaltung der 80er und 90er Jahre wurde die „Sphäre des sexuellen Erlebens“ insbesondere durch Virtualisierungs- und Stimulierungsprozesse von der „Sphäre der körperlichen Reaktion“ getrennt. Darunter fallen beispielsweise mechanische, chirurgische und medikamentöse Erektionshilfen, die ohne gespürtes Verlangen zur sexuellen Funktion, also zum Vollzug führen. Oder es geschieht wie beim Telefon- und Cybersex gerade anders herum. Diese Trennung wird für SIGUSCH auch in den Love Parades und Raver Partys greifbar, wo sich die „Neosexuellen“ aufwändig zu verführerischen Sexualsubjekten stilisieren, in der Regel jedoch konkrete körperlich-sexuelle Begegnungen vermeiden. (S.37)
Die letzte Dissoziation, die vorrangig vom politischen Feminismus angestoßen wurde, ist die Trennung der „Sphäre der Libido“ von der „Sphäre des Destrudo“. Die destruktive Seite der Sexualität wird heute viel stärker betont als die libidinöse. Wir werden ständig mit sexueller Gewalt konfrontiert, und „der ehemals singulär kranke Triebtäter wurde zum ubiquitär normalen Geschlechtstäter, zum Missbraucher und Vergewaltiger vervielfältigt“, bis Männer „nur noch geil, gewalttätig und impotent“ zu sein schienen. (S.33) Andererseits entstand gleichzeitig eine „totale Zärtlichkeitsideologie, die die dunklen Seiten der Sexualität verleugnet.“ (SCHMIDT, 1988, S.154) Durch diesen Prozess wurde die aggressiv-trennende Seite der Sexualität von der zärtlich-vereinigenden abgelöst, welche sich zunächst gegen Männer, aber heutzutage auch zunehmend gegen Frauen vor allem Mütter richtet, die bisher als Täterinnen tabuisiert und übersehen wurden.
Zerstreuung der alten Einheit Sexualität in sexuelle Fragmente
Vor allem durch den Zerstreuungsprozess mittels Kommerzialisierung und Ausnutzung durch die Medien werden Individuen einerseits entwurzelt und anonymisiert, andererseits aber auch vernetzt und „unterhaltsam verstreut“. (SIGUSCH, 2005. S.33) „Unterm Strich kommt mannigfaltige Atomisierung heraus.“ (zit. n. SCHMIDT, 1998, S.6): „Bruchstücke, die uns heute als diskursive Figuren beschäftigen, sind zum Beispiel: die zuviel oder zuwenig, also immer falsch liebende Mutter“; „der physisch oder psychisch abwesende Vater“; „das sexuell missbrauchte Kind“; „der eiserne, männliche Mann“; „der Sextourist“; „der elektronisch zerstreute Perverse“; „der Single“; „der medizinisch reparierte Impotente“; „der operativ beruhigte Geschlechtszweifler“; „die Fakesexerin“; „der futuristische Cybersexer“, um nur einige zu nennen. (SIGUSCH, 2005, S.34) In den Medien werden diese Fragmente zu unterhaltsamen Waren.
Deregulierung und Vervielfältigung der Intimbeziehungen
SIGUSCH weist auf den in den vergangenen Jahrzehnten angestoßenen emotionalen und sozialen Bedeutungsverlust der Herkunftsfamilie, also der Blutsverwandtschaft hin. Andere Vernetzungen werden immer wichtiger. Die Familie ist drastisch geschrumpft. Wir bewegen uns auf eine Kleinstfamilie zu. Immer mehr Einzelpersonen sind zu ihrer eigenen Familie geworden. Die Triade Vater-Mutter-Kind ist kulturell verblasst. Ehe und Familie sind, wie im nächsten Kapitel erörtert wird, faktisch voneinander getrennt. „Es gibt jetzt Singles und Alleinerziehende, Dauerbeziehungen mit Liebe, aber ohne sexuellen Verkehr, äußerst komplizierte Intimbeziehungen mit drei und mehr Akteuren, Abstinenz und Partnertausch, One-Night-Stands“ usw. (SIGUSCH in DIE ZEIT, 1996) Mit dieser Pluralisierung sind wieder „neue Scham-, Ekel-, Desensibilisierungs- und Zurückweisungsstandards“ entstanden. (S.37) Ein weiterer Aspekt ist die weiter zunehmende Intimisierung von Beziehungen, durch die Einsamkeit vermieden werden soll.
Lean Sexuality und Selfsex – Die neuen „Selbstpraktiken“
Man ist sich jedoch „narzisstisch und egoistisch selbst am nächsten“ (SIGUSCH, 2005, S.37), obwohl oft eine altruistische Gemeinschaft beschworen wird, von der man sich aber zugleich durch Verhalten und Outfit distanziert. Das Resultat der neosexuellen Revolution könnte in Anlehnung an das moderne Wirtschaftsprinzip der optimierten und effizienten Lean Produktion als selbstoptimierte „Lean Sexuality“ oder als „Selfsex“ bezeichnet werden. Bisexuelle, transgenderistische, sadomasochistische oder fetischistische „Selbstpraktiken“ sind typische Neosexualitäten. (S.36), denn das Triebhafte steht dabei nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr sind sie „zugleich sexuell und nonsexuell“, weil Selbstwertgefühl und Befriedigung stärker aus dem Thrill der „nonsexuellen Selbstpreisgabe und der narzisstischen Selbsterfindung“ erwachsen. Zudem oszillieren diese Praktiken viel stärker und sind häufiger vorübergehende Vorlieben oder Vorlieben, die nur am Wochenende ausgelebt werden, während man unter der Woche ganz korrekt funktioniert. (S.37) Hinter der Idealisierung von Lifestyles verbergen sich oft neue Formen des Zwangs, der Kontrolle, der Abhängigkeit und der Einsamkeit. GERHARD SCHULZE (2000) stellt ebenfalls fest: „Was die Gegenwart von den siebziger Jahren unterscheidet, ist eine Kombination von Selbstverständlichkeit und Distanziertheit bis zur Ermüdung. Dort, wo einst kollektive Aufbruchsstimmung, Entdeckerlaune, Erregtheit, Faszination und der Narzissmus des Konventionsbruchs herrschten, handhaben die Menschen Erlebnismittel mit achselzuckender Selbstverständlichkeit. „Ich tue, was mir gefällt“ wurde vom Fanal zur permanent gemurmelten Floskel, ja zur neuen Konvention. (…) Alles Neue ist im Grunde nichts Neues, sondern eingespielte Folklore mit oszillierender Oberfläche.“
Welche Rolle spielt die Liebe innerhalb dieser kulturellen Transformation?
Das Diktat ist Innovation und Wandel und doch, sagt SIGUSCH, klammern wir uns daran, dass es einen wissenschaftlich nicht reduzierbaren „Sexual-Rest“ gibt, „dass die Sexualität ein Rätsel ist, dass die Fetische und Szenen, die uns erregen ein Geheimnis umschließen, dass sie weder produziert werden können noch käuflich sind.“ (2005, S.41) SIGUSCH interpretiert die Liebe als „einzigartige Kostbarkeit“, weil sie eben nicht produziert und nicht gekauft werden kann, und sich im Verhältnis zu den Sexualformen viel langsamer verändert. (ebd.)
*Dieser Beitrag wurde hier schon einmal im Rahmen meiner Diplomarbeit veröffentlicht.
Und passend zum Thema jetzt noch ein wenig Kunst: