Das Ergebnis der Umverlegung war eine einigermaßen homogene Gruppe mit sieben lernbehinderten männlichen Jugendlichen, in der ich mein staatliches Anerkennungsjahr absolvierte. Mit mir waren zwei weitere Heilerziehungspfleger im Anerkennungsjahr und eine Kinderpflegerin für die Betreuung zuständig. Passend zum damaligen Zeitgeist einerseits, andererseits durch die dünne Personaldecke im mittleren Management, gab es bei dieser neuen Gruppe keine Hierarchie mehr. Wir teilten uns die Führung – quasi im Modellversuch, indem jeder seine festen Verantwortungsbereiche, möglichst nach Neigung, hatte.
Ich war beispielsweise für die medizinische Betreuung zuständig, d.h. für die kontinuierliche Berichtführung und enge Zusammenarbeit mit Ärzten und dem Kinder- und Jugendpsychiater, sowie für Medikamente und Verbandsmaterial. Und weil ich überraschend gut mit der Beißzange aus dem Kleiderlager klarkam, habe ich mir auch diese Aufgabe aufs Auge drücken lassen und sorgte also für die laufende Ergänzung der Kleiderbestände. Dienstplanerstellung identifizierten wir dagegen als eher vermintes Gebiet mit Konfliktpotenzial. Daher wechselten wir uns da alle drei Monate ab. Weil ich an diesem Konzept maßgeblich beteiligt und auch stolz darauf war, widmete ich meine Kolloquiumsarbeit dem Thema: „Führen im Team“.
In der pädagogischen Arbeit war mein besonderes Anliegen die Hausaufgabenbetreuung, da sich drei Jugendliche den Hauptschulabschluss vorgenommen hatten, was bis dahin in dieser Einrichtung einzigartig war. Einer hat später sogar die mittlere Reife in Angriff genommen und geschafft. Darüber hinaus waren meine Stärken vor allem das vertrauliche Gespräch mit einzelnen und kleinen Gruppen und das Gestalten festlicher Höhepunkte und Ferienfreizeiten.
Das bin ich nach meinem Sieg gegen einen Kollegen in einer Art Fischerstechen bei einem total wilden Feriencamp ohne fließend Wasser, wenn man einmal von der Donau absieht.
Sportliche Aktivitäten waren in so einer Jungsgruppe natürlich an der Tagesordnung. Wenn Not am Mann war, musstedurfte ich schon mal in der Abwehr mitspielen.
Zudem engagierte ich mich bei gruppenübergreifenden Praxistreffen, da sich die Interaktionen der Heimbewohner, auch die unguten, natürlich nicht auf die eigene Gruppe beschränkten. In dieser Runde wurden auch legendäre Ferienfreizeiten und Feste organisiert, wie schon angedeutet, eine Domäne von mir. Nach diversen Rhythmik-Lehrgängen und einer Fortbildung in „Musik und Bewegung“ konnte ich beispielsweise meine großen Jungs für ein Hausfest dazu bewegen, einen gespenstischen Ausdruckstanz zu Time von Pink Floyd einzustudieren. Im Nachhinein kommt es mir immer noch vor wie ein Wunder vor, besonders wenn man sich vor Augen führt, dass da richtige Klopper dabei waren.
Ein paar Randprobleme wie Streunen, Brandstiftungen (genau genommen beherbergten wir einen Feuerteufel, wie Jahre später ermittelt wurde), Diebstähle, Sadismus und Vergewaltigung, können das sicherlich belegen. Glücklicherweise ist dabei nicht das Kind entstanden, von dem in der letzten Fortsetzung die Rede war. Das war die Frucht einer, wenn auch sehr einseitigen Liebe. Daher war der Vater auch nicht schwer zu identifizieren. Der „Fall“ wurde uns nach Bekanntwerden natürlich sofort von höchster Stelle entzogen. Obwohl die werdende junge Mutter schwere Epileptikerin war und bis zur Entdeckung der Rundung unter entsprechend starker Medikation stand, war Abtreibung natürlich eine undenkbare Option. Das Mädchen wurde umgehend in eine Einrichtung für jugendliche Mütter verfrachtet und das Kind nach der Geburt zur Adoption freigegeben.
Echtes Leben!
Irgendwie toll, das zu lesen…
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Ich meine, Ihr irgendwie irgendwie zu verstehen…
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Das Wort „Leben[-s-]erfahren“ bekommt bei Ihnen eine ganz andere Bedeutung, liebe Eugenie!
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ja, das waren sehr lebhafte Zeiten.
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Guter Ausdruck „lebhafte Zeiten“ 😉
muss ich mir merken 🙂
Also bewundernswert! Nach allem was ich hier lese, immerhin schon „Kapitel“ III in Folge, schlag` ich nach jeder Ihrer Fort-Lesung drei Kreuze und bin froh auf Muttern gehört zu haben [ich wollte nämlich ursprünglich [Kinder]Psychologin werden – kein Witz! – und da hätt´ ich all jene Berufsstationen wohl auch durchlaufen müssen… Jesses!]
insofern ist jede Ihrer Folgen wie eine neue „Läuterung“ für mich 🙂
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Wer weiß, wenn Sie Psychologie studiert hätten, wären Sie womöglich meine Vorgesetzte geworden und hätten sich mit uns zusammen den Kopf zerbrochen, wie wir übersehen konnten, dass alles mit dem abgebrannten Elternhaus des Brandstifters begann und dass der Brandstifter in vielen Nächten systematisch von dem Sadisten gequält wurde, usw. …
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*kicher*… zuviel der Ehr, liebe Eugenie… zur Vorgesetzten hätt`s wohl nich gereicht, weil ich schon vorher [im Studium] an der Mathematik [Wahrscheinlichkeitsrechnung] verzweifelt wär`;-)
Indes… es fasziniert mich heute noch, zu hören wie [eben auch] zu lesen, worin die [Abgrund]Tiefe der menschlichen Seele [bisweilen] liegt.
Insofern ist mir die Profession der Seelen- und Gehirnforscher [auch heute] immer wieder ein Faszinosum!
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Dem Leben Sinn geben (aber das hab ich mir jetzt von Frankl ausgeborgt).
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„Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“
„Die Aufgabe wechselt nicht nur von Mensch zu Mensch – entsprechend der Einzigartigkeit jeder Person – , sondern auch von Stunde zu Stunde, gemäß der Einmaligkeit jeder Situation.“
Auch von Frankl ausgeborgt. : )
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Touchée!
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Ich finde ja, dass das gar nicht so weit auseinander liegt. Wenn einem das mit dem Sinn wichtig ist und man ihn seinem Leben geben will, macht man einfach die Augen auf und findet ihn. ; )
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Ich bin etwa seit dem letzten Einloggen in dies Photo verliebt. (Früher Morgen)
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was genau spricht dich da an, wenn ich das fragen darf?
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Du wirkst wie ein glücklicher Polyp in seiner Biosphäre.
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… wobei sich meine favorisierte Biosphäre eher in der Nähe eines Lagerfeuers auf festem Boden befindet. ; )
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